Julian Nida-Rümelin:

„Was hätte Europa ohne Impfstoffe getan?“

Salzburg
17.07.2021 00:00

Mit kritischen Thesen zur Pandemie sorgte der ehemalige deutsche Kulturminister und liberale Denker Julian Nida-Rümelin für Debatten. Bei den Festspielen spricht er über seine Idee von einer besseren Welt.

Der erste Eindruck von Julian Nida-Rümelin: erstaunlich unkompliziert für einen berühmten Philosophen. Der erste Eindruck von seiner ihn begleitenden Frau, der Literaturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld: klug und von eleganter Wachsamkeit.

Das Gespräch mit dem Ehepaar in einer Münchner Bar ist fordernd. Die italienische Schlagermusik gehobener Kategorie hält sich nicht wirklich dezent im Hintergrund. Beide sprechen sehr präzise und kommen rasch auf den Punkt. Es ist eines dieser fordernden Gespräche, bei dem einem die besten Fragen erst im Nachhinein einfallen. Einwände gegen die eine oder andere These wischt der Professor charmant weg.

Nathalie Weidenfeld, die es, wie sie sagt, gut aushält, dass auf Wikipedia unter ihrem Namen statt einer Berufsbezeichnung „Ehefrau von Julian Nida-Rümelin“ steht, gibt dem Gespräch immer wieder dezent die Richtung vor. Man spürt: Die beiden sind perfekt aufeinander eingespielt. Das ergibt sich wohl auch daraus, dass Nida-Rümelin und Weidenfeld gemeinsam Bücher schreiben. So wie der jüngst im Piper-Verlag erschienene Bestseller „Die Realität des Risikos – Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren“. Eine Streitschrift, die unter anderem mit der politischen Kommunikation und den Fehlern in der ersten Phase der Pandemie hart ins Gericht geht.

Dass in dem Buch den Europäern vor allem Asiens Umgang mit der Gesundheitskrise als Vorbild vorgehalten wird, hat intensivere Debatten ausgelöst. Das Autoren-Duo stellt sich der Kritik und bleibt Antworten für den künftigen Umgang mit diesen und vergleichbaren Risiken nicht schuldig.

Die von Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld aus der Corona-Krise gewonnenen Erkenntnisse gehen weit über die aktuelle Lage hinaus. Fast könnte man zum Eindruck gelangen, das Gesundheitsproblem wäre für den Philosophen eine wissenschaftlich bereichernde Fundgrube seines Lebensthemas von der „humanistischen Utopie“. Darüber wird Julian Nida-Rümelin zur Eröffnung der Salzburger Festspiele in der kommenden Woche sprechen. Zuvor redete er aber noch mit der „Krone“.

Nach welchen Erkenntnissen soll bei einer massiven Verbreitung der nächsten Virus-Variante über einen erneuten Lock- oder Shutdown entschieden werden?

Das ist eine gesamtpolitische Entscheidung und keine der Wissenschaft. Die wissenschaftlichen Spitzeninstitute für Virologie und Epidemiologie haben die Politik zu beraten, aber die Regierungen müssen unter Einbeziehung vieler Faktoren eine so weitreichende Entscheidung treffen. Da geht es um massive Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte. Es geht um die Freiheit der Berufsausübung, um die Bewegungsfreiheit, um die Freiheit der Religionsausübung, um das Versammlungsrecht. Das hat massive Auswirkungen auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft. Das führt zu Firmenzusammenbrüchen, junge Menschen verlieren Bildung, Depressionen nehmen zu. So eine Entscheidung muss man öffentlich abwägen und wir müssen von unserer Vernunft Gebrauch machen. Das kann man nicht einzelnen Experten überlassen. Es geht auch darum, die Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger ernster zu nehmen. Da geht es auch darum zu erklären, nach welchen Kriterien bestimmte Maßnahmen gesetzt und auch wieder beendet werden.

An welchen Richtwerten sollen wir uns also in der Pandemie anhalten?

Wir müssen uns daran orientieren, was wir vermeiden wollen. Das ist die Morbidität, also dass man überhaupt erkrankt oder gar auf eine Intensiv-Station muss. Das wollen wir vermeiden und Todesfälle natürlich ganz besonders. Es geht um die Rationalität des Risikos.

An dieser Stelle greift Nathalie Weidenfeld ein. Sie sagt: „Wenn Menschen sich an etwas festhalten sollten, dann sollten sie sich nicht an der Angst festhalten und an Irrationalitäten, sondern an den Zahlen. Die Zahlen sind unsere Freunde und helfen uns bei der richtigen Einschätzung der Lage.“

Wo lag der Fehler in der Bekämpfung der Pandemie?

Wir waren viel zu leichtsinnig. Es war sträflicher Leichtsinn zu Beginn. Beraten von der WHO und dem Robert-Koch-Institut ist anfänglich gesagt worden, wir schauen uns das einmal an. Und das war falsch. Im nächsten Schritt ist es dann verabsäumt worden, die Gesundheitsämter digital aufzurüsten, funktionierende Corona-Apps zur Nachverfolgung der Infektionswege hat es aus Datenschutzgründen nicht gegeben. Das waren schwere Versäumnisse. Auch sind zu Beginn die Quarantäneauflagen nicht kontrolliert worden. Man hat die Leute von Ischgl quer durch Europa in ihre Heimatorte reisen lassen. In Südkorea oder in Taiwan sind die Menschen in leer stehende Hotels eingewiesen worden. Dabei wäre gerade zu Beginn viel zu verhindern gewesen.

Und jetzt?

Überlegen wir einmal, was wir denn jetzt täten, wenn wir keinen Impfstoff hätten? Das haben viele in der Wissenschaft für hochwahrscheinlich gehalten. Wenn es so wäre wie bei AIDS. Da gibt es bis heute keine Impfung. Was hätte Europa ohne Impfstoff getan? Hätten wir dann wirklich ernsthaft gesagt, dass wir die nächsten sieben oder zehn Jahre mit Lockdowns oder Shutdowns oder anderen Maßnahmen die Krise bestreiten? So lange, bis die europäische Wirtschaft ruiniert ist? Das zeigt, dass wir eine Strategie eingeschlagen haben, die für Europa massiv schief gegangen wäre, wenn es den Impfstoff nicht gegeben hätte.

Eignen sich einige der Argumente nicht als Nahrung für Verschwörungsmythiker und Maßnahmengegner, die auf diesen Thesen surfen können?

Nathalie Weidenfeld greift, noch bevor ihr Mann antworten kann, kurz und entschieden ein: „Nein, das kann man nicht sagen.“ Nida-Rümelin setzt fort:

Die Irrationalität in Teilen der politischen Kommunikation macht mir mehr Sorgen als die Irrationalität verirrter Verschwörungsmythiker. Das waren nicht wenige und das sollte man auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ernster zu nehmen sind da schon bestimmte Botschaften eines Gesundheitsministers oder eines Bundeskanzlers oder aus dem Robert-Koch-Institut. Das muss man sich ansehen und genau schauen, was ist daran vernünftig und was nicht.

Sie setzen immer eine gewisse allgemeine Vernunft voraus. Wie kommt man auf die Vorstellung, dass es in der Gesellschaft so etwas wie eine kollektive Rationalität und Urteilskraft gibt?

Darauf komme ich einfach deshalb, weil wir in einer Demokratie leben. Die Demokratie beruht auf dieser Annahme. Wenn wir davon nicht ausgehen, dann haben wir keine Demokratie. Es gibt auch in der Wissenschaft bestimmte Vorschläge, die das Wahlrecht an bestimmte Bildungsniveaus binden wollen, also die Wahlstimmen nach dem jeweiligen Bildungsabschluss der Menschen zu gewichten. Es gab immer die Kritik an der Demokratie, dass die Menschen nicht in der Lage sind, sich ein verlässliches Urteil zu bilden. Deshalb dürfe man ihnen auf keinen Fall die Zusammensetzung einer Regierung oder die Auswahl von Politikern überlassen. Die Demokratie hat aber zur Voraussetzung, dass jeder seine Stimme hat. Ohne diese Voraussetzung kann Demokratie nicht existieren. Wenn wir das aufgeben und die Entscheidungen den Experten überlassen, dann wäre die Demokratie zu Ende. Das wäre dann wie im chinesischen Kaiserreich, in dem einzelne, hoch qualifizierte Leute uns dann in Zukunft erzählen, was richtig und was falsch ist.

Das Buch über die Coronakrise und die Lehren daraus sind während der auslaufenden Trump-Ära entstanden. Eines der wesentlichen Merkmale von Trumps Amtszeit war die Methode, jede Kritik als Fake News zu diffamieren. Zeitgleich hat die Pandemie durch Versuche und Fehler in der Bekämpfung die Demokratie auf eine Probe gestellt. Wie können die Dinge wieder zurecht gerückt werden?

Was wir erlebt haben, zeigt auch eine Art des Realitätsverlustes. Trump war ein extremes Beispiel. Aber es gab mit Silvio Berlusconi bereits davor eine etwas sympathischere Variante von Trump. Das ist eine bestimmte Form von Politik, in der es nicht um die Realität, sondern um die Message geht. Dann ist die Botschaft die Realität. Das Gesagte schafft die Realität. Das machen die Identitären so. Diese Populisten sagen, dass sie die Realität überhaupt nicht interessiert, sondern die konstruieren eine Realität. Und wenn etwas oft genug gesagt wird, dann glauben die Menschen daran und dann ist es für sie Realität.

Wie gehen wir mit diesem Verlust von Realität um? Was können wir aus diesen Vorgängen in der Politik lernen?

Mit dem Thema der Realität in der Demokratie befasse ich mich schon lange. Ich wurde früher kritisiert von Feuilletonisten, die sagen, dass es in der Demokratie doch nie um die Wahrheit ginge. Das würde heute in dieser Form wohl niemand mehr sagen. Risiko ist kein Konstrukt. Risiko ist Realität. Das zeigt uns die Pandemie. Risiko ist nicht das, was Leute meinen. Das wäre Risikowahrnehmung. Das ist nicht mit der Realität des Risikos gleichzusetzen. Halten wir es doch nach den Erfahrungen mit Sigmund Freud, der empfohlen hat, dass wir erwachsen werden sollen. Die Welt ist nicht so, wie man sie sich wünscht, sondern sie ist widerständig und man muss sich mit ihr auseinandersetzen.

Nathalie Weidenfeld weist auf das widersprüchliche Verhalten hin, dass der Mensch lieber den Schaden minimiert, wenn er bereits eingetreten ist, als Schaden zu verhindern: „Das war das Problem im März 2020. Wir hätten vorausdenken und gleich Maßnahmen wie die Quarantäne setzen müssen. Da wäre noch viel zu vermeiden gewesen.“

Neben dem Leugnen ist doch auch Verdrängen eine beliebte Methode?

Ferdinand Lassalle sagte, große politische Aktion bestehe in dem Aussprechen dessen, was ist und damit beginnt. Ideologien versuchen das zu umgehen. Ideologien sind Vernebelungstaktiken, die mit großem intellektuellem Aufwand die Auseinandersetzung mit der Realität verhindern sollen. Die Wirklichkeit ist oft eine andere und die ist komplex und fordernd. Covid-19 ist dafür ein Beispiel. Die einen haben das Risiko verdrängt. Andere haben es zu einer apokalyptischen Bedrohung aufgebauscht. Hier hilft nur der Versuch des Gebrauchs der öffentlichen Vernunft. Das ist Demokratie.

Wann haben wir damit aufgehört, die öffentliche Vernunft zu gebrauchen?

Vieles wird nicht mehr hinterfragt, weil man sich dann mit Komplikationen konfrontieren muss. Das führt zu Stress in der Gesellschaft. So wie die Multikulturalität zu Stressphänomenen führt. Da müssen die Regeln des Zusammenlebens dauernd neu ausverhandelt werden. In solchen Situationen der Angst suchen Menschen eine Autorität, so wie früher in der Kindheit nach Papa und Mama. Dann schützt man sich durch Ordnung. Es wächst die Sehnsucht nach der starken Persönlichkeit, die mir sagen soll, was richtig und was falsch ist.

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