Nimmt man Jürgen Melzer als "Nährboden", treibt die berüchtigte österreichische Raunzer-Mentalität besonders farbenfrohe Blüten. (Nicht repräsentatives) Beispiel gefällig? Bitte sehr: Ein örtlicher Tennisplatz im Mittelburgenland (Ortschaft der Redaktion bekannt). Soeben macht die Nachricht von Melzers Turniersieg in Winston Salem die Runde. Große Freude macht sich über die weitläufige Anlage breit - könnte man meinen. Tatsächlich ist der einhellige Tenor unter den Hobby-Tennisspielern nämlich ein ganz anderer: "Aber nächste Woche kannst ihn wieder vergessen."
Weltklasse, aber unbeliebt
Symptomatisch für Melzers Standing in weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung. Der Mann zählte vor gar nicht allzu langer Zeit zu den acht besten Tennisspielern auf dem Planeten - eine Wahnsinnsleistung für einen Österreicher. Er ist nach Thomas Muster der mit Abstand erfolgreichste Tennisspieler der Nation - und von einem Status als Everbody's Darling trotzdem weit entfernt. Einige Erklärungsversuche für das Image, das sich Melzer nicht verdient hat:
Nicht wenige Tennis-Affine addieren die angeführten Fakten zum simplen Schluss, dass Melzers Tage gezählt seien und er das Racket, vor allem im Davis Cup, an den Nagel hängen solle. Ich behaupte: Unsinn! Es ist nicht so, dass Melzer einer Horde nachdrängender Supertalente den Platz verstellen würde - und wenn, wäre er wohl der Erste, der das erkennt und abdankt. Es ist nicht selbstverständlich, dass er sich mit 32 Jahren immer noch in den Dienst seines Heimatlandes stellt.
Dass er dabei nicht immer glückliche Figur macht - keine Frage, siehe Groningen. Nur: Ohne Flaggschiff Melzer bräuchten wir die allermeisten Davis-Cup-Partien mangels reeller Siegchancen gar nicht in Angriff zu nehmen. Apropos: Dass Österreich mit der Pleite gegen die Niederlande aus der Weltgruppe abgestiegen ist, tut weh. Dass wir davor aber fünf Jahre lang zu den 16 (!) Top-Nationen der Tenniswelt gezählt haben, ist eine absolute Sensation. Kann sich jemand im Fußball eine derartige Platzierung vorstellen? Eben!
Mehr Realitätssinn
Ein bisserl mehr Sinn für die Realität täte auch bei der Beurteilung von Jürgen Melzers Karriereleistungen gut. Fünf ATP-Titel im Einzel und zwei Grand-Slam-Titel (!) im Doppel zu gewinnen, ist im Land der Skifahrer ein Riesenleistung. Und wer's mit 32 noch ins Halbfinale von Kuala Lumpur schafft und dort knapp am Bezwinger von David Ferrer (!) scheitert, ist definitiv noch zu gut für die Pension.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.