Viele Meldungen

Missbrauch: Auch “weltliche” Heime sind betroffen

Österreich
28.07.2010 09:34
Nach dem Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in kirchlichen Institutionen gehen jetzt in den Bundesländern nach und nach auch Meldungen über Vorfälle ein, die sich in "weltlichen" Heimen zugetragen haben. Ein Großteil der Beschwerden bezieht sich auf Fälle, die bereits Jahrzehnte zurückliegen. Manche betroffene Einrichtungen existieren gar nicht mehr. Nicht immer sind in diesen Fällen aber die Aufsichtspersonen die primären Täter. Häufig geht es um Gewalt und Missbrauch der Jugendlichen und Kinder untereinander - nicht selten mit Duldung der Erzieher.

Dass sich in Heimen Größere an Kleineren vergreifen, stünde quasi an der Tagesordnung. Ebenso wie Aggressionen, selbstzerstörerische Tendenzen, Gewalt und Provokationen, schildert die erfahrene Erzieherin Dagmar Wortham in ihrem jüngst erschienenen Buch "Die ungeliebten Kinder. Endstation Heim?" (272 Seiten, Goldegg Verlag).

Ob sie verwundert darüber ist, dass jetzt vermehrt sexuelle Übergriffe an die Öffentlichkeit gelangen? "Ja, mich wundert das, wie die Betroffenen es geschafft haben, weil üblicherweise nichts nach außen dringt", sagt die Autorin. Die meisten reden nicht darüber. "Teils aus Angst, was passiert, wenn die anderen erfahren, dass sie 'gepetzt haben', und teils deshalb, weil sie niemandem vertrauen oder es ohnehin nichts ändern würde, wenn sie darüber reden." Oft werde es einfach "stillschweigend hingenommen".

Kinder vergehen sich an Kindern - "Sicherlich wirken die Verhaltensweisen der Kinder extrem. Doch meine Einstellung dazu ist, dass die Kinder so nur äußerlich zeigten, wie es ihnen innerlich ging, denn Kinder, die Probleme haben, machen auch Probleme", schreibt die Erzieherin. Und den Kindern, die sich unwohl fühlen, stehen Pädagogen gegenüber, die hilflos und überfordert sind. Der Alltag von Erziehern sei geprägt von Turnusdiensten, Nachtdiensten, Berichten, Abrechnungen, Dienstplänen, Abbau von Überstunden, Organisationsarbeit oder Dienstbesprechungen. Mehr als eine Beaufsichtigung der Kinder sei oft nicht möglich.

Wohngruppen statt Großheime
Wortham will aber mit ihrem Buch nicht nur Kritik üben, sondern auch Lösungen anbieten. Sie spricht sich explizit für Wohngruppen und gegen große Heime aus, wie es derzeit auch in den meisten Bundesländern Strategie ist. Fremdunterbringung könne für viele Kinder eine Chance sein - vorausgesetzt ihnen wird die Möglichkeit geboten, sich aktiv mit ihren Problemen auseinanderzusetzen, ihr Leben zu ordnen und sich neu zu orientieren.

Mit ihrem Buch wolle sie nicht abrechnen oder sich an jemandem rächen. "Ich will bessere Wege aufzeigen", sagte Dagmar Wortham. "Mir geht es nicht um die Erwachsenen, sondern um die Kinder."

Fast 11.000 Kinder leben nicht bei ihren Eltern
10.659 österreichische Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben nicht bei ihren Eltern, sondern sind bei Pflegeeltern (4.371) oder in Kinder- und Jugendheimen, in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften, Kinderdörfern oder sonstigen Einrichtungen untergebracht. 27.261 Minderjährige erhielten laut Statistik des Familienministeriums im Vorjahr "Unterstützung der Erziehung". Das bedeutet, dass das betroffene Kind in seiner Familie bleibt und die Familienmitglieder mit einem Sozialarbeiter zusammenarbeiten.

Die Zahl der auf diese Weise betreuten Kinder und Jugendlichen ist im Vergleich zu 2008 um 3,8 Prozent gestiegen, die Zahl der Unterstützungen um fünf Prozent. 40 Prozent der Pflegekinder bleiben länger als fünf Jahre in ihrer neuen Familie. Anders verhält es sich bei der Unterbringung in sozialpädagogischen Einrichtungen: Dort bleiben nur 12,3 Prozent länger als fünf Jahre. Nachfolgend ein Rundruf durch die Bundesländer in Bezug auf Missbrauchsfälle:

In Oberösterreich wurden bisher 15 Fälle in weltlichen Einrichtungen an die Kinder-und Jugendanwaltschaft (kurz: Kija), die seit rund drei Wochen als offizielle Anlaufstelle fungiert, herangetragen. Im Wesentlichen handelt es sich um Gewaltvorwürfe. Der älteste Fall stamme aus den späten 1960er Jahren, der jüngste aus dem Jahr 1985, erklärte Kija-Leiterin Christine Winkler-Kirchberger. Ein ehemaliger Zögling soll beispielsweise mit Duldung der Erzieher von anderen Jugendlichen tätowiert worden sein.

103 Beschwerden von 79 Betroffenen sind bei der vom Land Tirol eingerichteten Ombudsstelle für Missbrauchsfälle bisher eingegangen. Neben 40, die kirchliche Institutionen betrafen, entfielen 25 Beschwerden auf Einrichtungen des Landes Tirol, 14 auf jene der Stadt Innsbruck, neun auf Schulen, zehn auf die Klinik und fünf auf sonstige Vereine. Zu den Details der Vorwürfe wollte die Jugendanwaltschaft keine Angaben machen. Der Großteil der Vorfälle bei privaten Heimen betraf jedenfalls physische Gewalt, aber es gab auch drei Fälle von sexuellen Übergriffen. Alle Beschwerden gingen auf die Jahre von 1955 bis 1992 zurück.

Aktuelle Missbrauchsanzeigen liegen im Burgenland laut dem Kinder-und Jugendanwalt Christian Reumann keine vor, aber "es gibt immer wieder was". Er bearbeite momentan drei Fälle, die bereits über 20 Jahre zurückliegen und in Schulen passiert seien. "Die Menschen sollen wissen, dass es auch Jahre oder Jahrzehnte danach noch wichtig ist, darüber zu reden", sagte Reumann. Selbst wenn es damals "nur" ab und zu eine "Watsch'n" war oder "der Lehrer einen schikaniert hat". Genaue Zahlen zu den bisherigen Missbrauchsfällen könne er nicht nennen: "Jede Zahlennennung würde die Realität verzerren." Grund dafür sei, dass sich viele nicht trauten, etwas zu sagen. "Im ländlichen Bereich ist die Hemmschwelle hier bestimmt viel größer, auch wenn sich mittlerweile schon mehr Betroffene trauen, sich an eine Beratungsstelle zu wenden."

Bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft der Steiermark wurde bisher ein Fall von Kindesmissbrauch in einem Heim gemeldet. "Ja, es ist uns ein Fall bekannt", so die Kinderanwältin Brigitte Pörsch. "Da es ein laufendes Verfahren ist, möchte ich dazu nichts sagen", erklärte sie auf die Frage nach den Details. Seit März dieses Jahres gibt es in Kärnten die Opferschutzhotline, bei der sich Betroffene melden können. "Von sexuellen Übergriffen seitens der Betreuer ist uns nichts bekannt. Wo wir allerdings fünf Betroffene verzeichnen, ist körperliche oder psychische Gewalt, wie Schläge, Nahrungsentzug oder Demütigungen gegenüber den Schützlingen", so Christine Gaschler-Andreasch. Sexuelle Übergriffe bei den Kindern untereinander kämen durchaus vor, aber Gaschler-Andreas verbindet dies mit pubertärem Verhalten, "wo man halt aufpassen muss, wo die Grenzen sind". Die Einrichtungen sind dazu verpflichtet, der Jugendwohlfahrt solche Übergriffe zu melden. Eltern und Sozialarbeiter würden darüber hinaus verständigt werden. "Wenn es den Anschein hat, dass die Aufsichtspflicht verletzt wurde, wird die Staatsanwaltschaft informiert", sagte Gaschler-Andreasch.

In Wien sind rund 50 Missbrauchsfälle aus Heimen bekannt, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Die Betroffenen seien heute 55 bis 70 Jahre alt, sagte die Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits. Details wollte sie keine verraten. In Salzburg sind bisher drei Meldungen im Büro von Sozialreferentin Landesrätin Erika Scharer eingegangen, in denen es in den 1950er bis 1970er Jahren zu Misshandlungen gekommen sein soll. Eine Beschwerde davon betrifft ein Heim in Oberösterreich.

Weder der Jugendwohlfahrt noch der Kinder-und Jugendanwaltschaft sind in Niederösterreich aktuell Missbrauchsfälle in öffentlichen Heimen im Bundesland bekannt. Zwei Verdachtsfälle habe es heuer zwar bereits gegeben, beide hätten sich aber als etwas anderes herausgestellt, sagte Gabriela Peterschofsky-Orange, Leiterin der Kinder- und Jugendanwaltschaft. Bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch waren für Vorarlberg keine Verfahren bekannt.

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