Nach einem Sommer voll spielerischer Lust verschwindet Hanna von einem Tag auf den anderen. In Rückblenden wird sich der mittlerweile erwachsene Michael – Ralph Fiennes als Anwalt mit melancholischer Attitüde – der verwirrenden Ereignisse seiner Jugendtage erinnern, an dieses verbotene, sündige Stück Freiheit, als er Hannas Vorleser und sie seine Geliebte war. Jahre später hatte er sie als Jusstudent in einem Gerichtssaal wiedererkannt, befangen von der Wucht der Überraschung – und von der Anschuldigung, die auf ihr, auf seiner Hanna, lastete.
Denn Hanna ist mit fünf anderen ehemaligen Wärterinnen des KZ Auschwitz angeklagt, den Tod von 300 jüdischen Häftlingen, die in einer abgeriegelten Kirche verbrannten, durch stoisch-befehlsgetreues Nichteingreifen mitverschuldet zu haben. Noch während der Verhandlung entdeckt Michael Hannas eigentliches Geheimnis. Sie ist Analphabetin, kann also ein todbringendes Dossier damals gar nicht unterzeichnet haben. Doch aus Scham ob dieser Schwäche schweigt sie und wird zu lebenslänglich verurteilt. Und er, Michael, der ihr helfen könnte, erstarrt ebenfalls in Schweigen. Ein sprachloses Entsetzen und eine Mitschuld, an der er lange zu tragen haben wird. Lebenslang.
Die Feigheit ist ein rückgratloses Tier
Stephen Daldrys („The Hours“, „Billy Elliot“) bewegende Literaturverfilmung gibt nicht nur Kate Winslet die Bühne für eine verstörend schwierige Rolle zwischen Scheu, Scham und Schmerz, sondern zeigt auch Shooting-Star David Kross („Krabat“) als titelgebenden Vorleser und Nachwuchstalent mit großer Leinwandpräsenz.
Hanna und Michael sind zwei Menschen, die sich der Verantwortung auf sehr unterschiedliche Weise verweigern. Die Feigheit ist ein rückgratloses Tier. Und nur Michaels nie verloren gegangene Zuneigung zu ihr, Hanna, die er ganz anders hatte kennenlernen dürfen, vermag vage Erlösung zu verheißen. Hanna kommt nach über 20 Jahren frei. Sie hat anhand von Hörkassetten, auf die er ganze Bücher gesprochen hatte und die er ihr zusammen mit einem Rekorder ins Gefängnis geschickt hatte, lesen und schreiben gelernt.
Das Wort ist Brücke und Wissen
Kate Winslet spielt den ambivalenten Part der Hanna zwischen selbstvergessener Unbefangenheit und versteinerter Apathie. Kate Winslet: „Der Film 'The Reader' ist mehr als nur ein Drama über den Holocaust und die monströsen Mechanismen des Bösen. Es geht hier um moralische Verfehlungen und deren Reichweite und um die Feigheit, die der menschlichen Natur innewohnt.“ Nicht zuletzt handelt „Der Vorleser“ von der enormen, ja vielleicht sogar heilsamen Kraft des gesprochenen Wortes. Kate Winslet: „Das Wort ist Brücke, ist Wissen und Bewusstwerdung. Die Stimme eines Menschen, der uns in Kindheitstagen vorgelesen hat, bleibt wohl auf ewig präsent. Wir vergessen sie nie!“ („The Reader – Der Vorleser“, ab 27. 2. in unseren Kinos).
Von Christina Krisch, Kronen Zeitung
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