Durch EU-Türkei-Deal

Kurden-Flüchtlinge: Visumfrei um 60 € nach Berlin?

Ausland
28.03.2016 15:42

Im Flüchtlingspakt mit der Türkei hat die EU Visumfreiheit für Türken bis spätestens Ende Juni versprochen, wenn Ankara 72 Bedingungen erfüllt. Mehr als die Hälfte der Punkte ist bereits abgearbeitet, die restlichen sollen bis Mai erledigt sein. Paradoxe Folge des Abkommens könnte sein, dass sich die EU damit zwar gegen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan abschottet, dafür aber massenhaft Kurden nach Europa kommen - visumfrei aus der Türkei, bequem mit dem Flugzeug.

Für die türkische Küstenwache war es ein Novum: Im Februar stoppte sie in der Ägäis nach eigenen Angaben erstmals Kurden aus der Südosttürkei, die der Gewalt dort entkommen und in der EU Zuflucht suchen wollten.

Visumfrei für 60 Euro von Diyarbakir nach Berlin
Wenn die Visumpflicht für Türken bei Reisen in den Schengenraum tatsächlich wie geplant Ende Juni fallen sollte, können sich Kurden mit türkischem Pass den teuren und gefährlichen Seeweg sparen. Dann könnten sie etwa direkt nach Deutschland reisen. Die Kosten für ein Flugticket von der Kurdenmetropole Diyarbakir nach Berlin liegen derzeit bei 200 Türkischen Lira, umgerechnet 62 Euro. Das ist ein Betrag, den auch in der Türkei so gut wie jeder aufbringen kann.

Experte rechnet mit bis zu 500.000 Flüchtlingen
Sollte die Visumpflicht aufgehoben werden, erwartet der britische Türkei-Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik eine neue Fluchtbewegung in die EU. "Potenziell könnten 400.000 bis 500.000 türkische Flüchtlinge - vor allem Kurden - Asyl beantragen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Jenkins geht davon aus, dass angesichts der eskalierenden Gewalt im Kurdenkonflikt viele dieser Asylwerber Aussicht auf Anerkennung hätten.

Auch nach Ansicht des Vorsitzenden der prokurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, droht nach der geplanten Aufhebung der Visumpflicht für Türken ein Zustrom von Kurden in die EU. "Wenn sich der Krieg in der Türkei ausweitet, kann es zu neuen Flüchtlingsströmen kommen. Nicht nur Kurden, auch Türken könnten nach Europa fliehen. In Strömen werden Menschen in sicherere Regionen gehen wollen", sagte er.

Bisher müssen Antragsteller für ein Visum für den Schengenraum glaubhaft versichern können, dass sie in die Türkei zurückkehren wollen. Wer kein Visum hat, kommt derzeit nicht einmal bis zum Flugzeug. Wenn die Visumpflicht entfällt, sind zwar nur Aufenthalte von bis zu 90 Tagen erlaubt - und ein Recht darauf, sich in der EU niederzulassen und dort zu arbeiten, besteht nicht. Dennoch könnten zahlreiche Türken versucht sein, mit Schwarzarbeit ihr Glück zu versuchen und nach der 90-Tage-Frist unterzutauchen.

Hoffnung auf Netzwerke vor Ort
Wer als Türke Familie vor Ort hat, muss nicht fürchten, obdachlos zu werden - und Verwandte in Europa haben viele. Oppositionelle könnten erwägen, dem wachsenden politischen Druck in der Türkei zu entkommen. Nach Angaben des Justizministeriums in Ankara laufen derzeit mehr als 1800 Verfahren alleine wegen Beleidigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Die mit Abstand größte Gruppe könnten aber Kurden werden, die vor den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Südosttürkei nach Europa und dort besonders nach Deutschland fliehen. Jeder, der es nach Deutschland schafft, darf dort Asyl beantragen - erst recht, wenn er vorher keinen anderen EU-Staat durchquert hat.

Kurde: "Jeder in meiner Lage würde gehen"
In Diyarbakir wissen viele Kurden über die geplante Visumfreiheit Bescheid. "Alle werden nach Deutschland gehen", sagt etwa die 43-jährige Yüksel. Einer ihrer Brüder kämpft laut ihren Angaben für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, zwei sind im Gefängnis, zwei wurden im Kampf getötet. Der 51-jährige Mustafa, der bei Gefechten in Diyarbakir seine 16 Jahre alte Tochter Rozerin verloren hat, sagt: "Wenn ich die Möglichkeit hätte, nach Europa zu gehen, dann würde ich gehen. Ich glaube, jeder in meiner Lage würde gehen."

Weniger Chancen auf Anerkennung hätten solche Asylwerber, würde die EU die Türkei als "sicheres Herkunftsland" einstufen - womit Erdogan bescheinigt würde, dass in seinem Land die Menschenrechte geachtet werden und keine politische Verfolgung stattfindet. Weil daran in Europa Zweifel herrschen, gibt es starke Widerstände gegen eine solche Einstufung, für die sich etwa EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker aussprach.

Baldiger Kollaps des Schengen-Abkommens?
Türkei-Experte Jenkins glaubt nicht daran, dass die Visumfreiheit überhaupt kommt. "Ich denke, dass eher Schengen auseinanderbricht", sagt er. "Ich bin sicher, dass sich einige Staaten eher aus Schengen zurückziehen würden, bevor sie Türken die visumfreie Einreise erlauben." Für die Türkei ist Visumfreiheit aber der wichtigste Punkt im Pakt mit der EU. Sollte sich Ankara darum geprellt sehen, dürfte das Abkommen hinfällig werden. Erdogan könnte dann seine frühere Drohung wahr machen - und die Grenzen zur EU für Flüchtlinge öffnen.

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