Flüchtlings-Slum

Frankreichs Polizei räumt “Dschungel von Calais”

Ausland
22.09.2009 10:59
In der französischen nordöstlichen Küstenregion Calais spielt sich derzeit der größte Polizeieinsatz des Landes ab. Die Sicherheitskräfte räumen dort den sogenannten "Dschungel von Calais", ein illegales Immigrantenlager, das in den letzten Jahren zum Dreh- und Angelpunkt für Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak oder Afrika auf dem Weg nach Großbritannien geworden ist. Bei der Räumung des Flüchtlings-Slums durch Hunderte Polizisten kam es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen der Gendarmen mit den Flüchtlingen und den gegen die Räumung demonstrierenden Franzosen.

500 Polizisten rückten gegen 07.30 Uhr an und lösten die wilde Siedlung binnen zwei Stunden auf. 276 illegale Einwanderer griff die Polizei auf, darunter 135 Jugendliche. Die vor allem aus Afghanistan geflohenen Buben und Männer hatten mit Hilfe von Unterstützern Spruchbänder vorbereitet: "Frieden und Asyl", "Wir brauchen eine Unterkunft und Schutz. Im Dschungel sind wir zu Hause".

In den vergangenen Monaten hielten sich schätzungsweise bis zu 2.000 Migranten rund um Calais auf. Sie bezahlen Schlepper, um auf einem Lastwagen versteckt durch den Eurotunnel den Ärmelkanal nach England zu durchqueren. Die meisten stammen aus Afghanistan, dem Irak, Eritrea und dem Sudan. Hilfsorganisationen und Menschenrechts-Aktivisten protestieren lautstark gegen die medienwirksame Räumungsaktion. Die Flüchtlinge hätten keine Alternative, sie würden sich lediglich anderswo unter ähnlich katastrophalen Bedingungen niederlassen, betonten sie.

Schon kurz nachdem Frankreichs Einwanderungsminister Eric Besson vor einer Woche ankündigte, dass das wilde Lager am Ärmelkanal geräumt wird, verschwanden zwei Drittel der rund sechshundert illegalen Einwanderer. In Frankreich glaubt kaum jemand, dass die umstrittene Räumung wirklich etwas bringen wird.

Katastrophale hygienische Bedingungen
"Wir können dieses vollkommen rechtsfreie Gebiet in unserem Land nicht dulden", sagt Pierre de Bousquet de Florian, der oberste Verwaltungsbeamte im Gebiet Pas-de-Calais im Norden Frankreichs. Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge seien "abscheulich", im Sommer sei in dem Zeltlager die Krätze ausgebrochen. Er habe dreihundert Immigranten behandeln lassen müssen. Gleichzeitig würden die illegalen Einwanderer gegenüber der Bevölkerung immer aggressiver: Diebstähle, Plünderungen und Gewalttätigkeiten seien an der Tagesordnung, sagt der Präfekt.

Im "Dschungel" im Nordosten von Calais lebten die Menschen in Zelten, die sie notdürftig aus Decken und Planen zwischen Bäumen und Sträuchern aufzogen. Tagsüber saßen sie vor den Unterkünften, rauchten, tranken Tee und machten Feuer, um ihre Kleidung nach dem Waschen zu trocknen. Vor allem planten sie aber ihre Flucht über den Kanal, nach Großbritannien, wo sie auf Arbeit und Geld hoffen. Oft wochenlang warteten sie auf eine Gelegenheit, um sich auf Parkplätzen der umliegenden Unternehmen in einen Lastwagen zu schmuggeln und über die Straße von Dover zu fliehen.

Ein Lager wie den "Dschungel" einfach plattzumachen, ist aber nicht die beste Lösung, das ist auch dem Präfekten klar. "Damit tut man ihnen weh. Man beraubt sie ihrer Versorgung", sagt Bousquet de Florian. Wichtiger sei es, die Schleuserringe zu zerschlagen, für die Calais zur Hochburg beim Transit nach Großbritannien geworden sei. Um nach Europa und bis an den Ärmelkanal zu gelangen, zahlen die Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisenländern den Menschenhändlern oft tausende Dollar, um in einem Lastwagen auf einem der Güterzuge durch den 50 km langen Tunnel nach England zu reisen.

Mönch: "Die Räumung ändert nichts"
"Wenn die Afghanen aus dem 'Dschungel' raus sind, gehen sie eben hundert oder zweihundert Meter weiter", sagt der französische Mönch Jean-Pierre Boutoille vom Wohltätigkeitsverband C-Sur. Seit der von heftigen Protesten begleiteten Schließung des berüchtigten Flüchtlingslagers Sangatte vor sieben Jahren - angeordnet vom damaligen Innenminister und heutigen Staatschef Nicolas Sarkozy - seien die nachwachsenden wilden Siedlungen in dem Gebiet regelmäßig geräumt worden. "Geändert hat das schlicht nichts", meint der Mönch.

Einwanderungsminister Besson versichert, dass über das Schicksal der Flüchtlinge von Fall zu Fall entschieden werde: Entweder bekämen sie Hilfe, um freiwillig in ihre Heimat zurückzukehren, oder sie beantragten Asyl. Manchen drohe auch die Abschiebung. "Aber wenn es die Lage in Afghanistan nicht erlaubt, wird niemand zur Rückkehr gezwungen", sagt der Minister.

Paris wird Räumung des wilden Lagers ausbaden müssen
Die Flüchtlinge wollen aber offenbar gar nicht in Frankreich bleiben. Seit Jahresbeginn gingen 170 Asylanträge ein, heißt es im Einwanderungs-Ressort. Schätzungsweise lebten in dem französischen Küstengebiet rund um Calais aber bis zu zweitausend Flüchtlinge. Der Pariser Bezirksbürgermeister Rémi Féraud fürchtet, dass vor allem die Hauptstadt die Räumung des wilden Lagers ausbaden wird. Schon jetzt leben hunderte afghanische Flüchtlinge in seinem Stadtviertel, dem zehnten Arrondissement. Die Regierung verlagere das Problem lediglich, sagt Féraud. "Der Zustrom von Exilanten nach Paris wird immer mehr."

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