In Kiew verletzt

“Ich dachte, ich werde nie mehr sehen können”

Österreich
01.03.2014 16:31
1.000 Verletzte hat die blutige Nacht des 18. Februar in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gefordert – und 80 Tote. Anton Kovalov traf eine Kugel am Auge. Außenministerium und Rotes Kreuz flogen ihn und einen Freund nach Österreich aus. Am Montag wird der 39-Jährige in der Wiener Rudolfstiftung operiert. Im Interview mit Conny Bischofberger erzählt er, was die Ukrainer auf die Straße treibt, warum er der Polizei die Schuld an der Eskalation gibt und was er von Vitali Klitschko hält.

In der Wiener Juchgasse scheint die Sonne, als Anton Kovalov mit seiner Freundin Oksana am Freitagnachmittag die Krankenanstalt Rudolfstiftung verlässt - er darf dort keine Journalisten empfangen. Anton blinzelt. Sein linkes Auge ist rot umrandet, er muss es vor der Helligkeit schützen. Vor zwölf Tagen hat der Künstler noch auf dem Maidan, dem zentralen Unabhängigkeitsplatz in Kiew und Epizentrum der ukrainischen Revolution, demonstriert, nun sitzt er vor einer Melange im "Dreier-Café" und wirkt, als könnte er es selber kaum glauben.

Während er der "Krone" seine Geschichte erzählt, gibt der nach Russland geflohene gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch gerade eine Pressekonferenz, auf der Krim postieren sich russische Soldaten und Österreich friert 18 ukrainische Konten ein.

"Krone": Herr Kovalov, wie geht es Ihnen?
Anton Kovalov: Schon besser. Mein Auge ist in relativ gutem Zustand. Aber das Gummigeschoss ist noch immer drin. Sehen Sie? Hier unten sitzt es fest. Die österreichischen Ärzte wollen es am Montag entfernen.

"Krone": Was ist in jener Nacht des 18. Februar genau passiert?
Kovalov: Ich bin zwischen die Fronten geraten. Ich war mit Freunden und Oksana am Maidan. Wir wollten nur friedlich demonstrieren. Das war neben der U-Bahn-Station Chreschttschatyk, da war eine Barrikade. Als die Polizei gekommen ist, wollten die Leute fliehen. Aber es war einfach zu eng. Dann haben sie angefangen, uns mit Gummiknüppeln zu schlagen. Auch mich haben sie am Kopf getroffen. Ich glaube, sie wollten uns Angst machen. Es sind Steine geflogen, später auch Molotowcocktails.

"Krone": Haben Sie auch Steine geworfen?
Kovalov: Ja. Wir konnten es einfach nicht mehr aushalten, wie sie uns behandelt haben.

"Krone": Waren Sie bewaffnet?
Kovalov: Nein. Alles, was ich hatte, war ein Schutzschild aus Holz, den ich auf der Straße gefunden hatte. Da viele Demonstranten Schutzkleidung getragen haben und Helme, hat die Polizei gezielt auf die Augen geschossen. Erst mit Gummigeschossen, als einige Demonstranten Granaten warfen, haben sie auch scharfe Munition eingesetzt.

"Krone": Was war das für ein Moment, als Sie getroffen wurden?
Kovalov: Ich dachte, ich werde nie mehr sehen können. Meine Freundin hat mich zur U-Bahn geschleppt. Von dort fuhren wir ins Krankenhaus von Kiew. Dort lagen schon viele Verletzte, sogar auf dem Boden lagen Verwundete. Ich habe Leute mit ausgeschossenen Augen gesehen, Leute mit abgetrennten Händen. Im Vergleich zu vielen war ich nicht so arg verletzt, mein Auge hat nur geblutet. Den Höhepunkt der Gewalt habe ich nicht mehr erlebt, ich konnte aber vom Krankenbett aus die Explosionen hören und die Schüsse.

"Krone": Was ging da durch Ihren Kopf?
Kovalov: Wir wollten einen verletzten Mann mit in die U-Bahn nehmen. Aber er war einfach zu schwer und wir mussten ihn zurücklassen. Ich habe an diesen Mann gedacht, auch ein einfacher Bürger von Kiew wie ich. Ich möchte zu gerne wissen, was mit ihm geschehen ist.

"Krone": Was treibt die einfachen Bürger auf die Straße?
Kovalov: Die Sorge um unser Land. Wir wollen Gesetze, die für alle gelten. Wir wollen eine Regierung, die vom Volk ausgeht. Wir wollen Freiheit. Jeder Bürger soll so leben können, wie er will. So wie hier in Österreich.

"Krone": Aber das Volk hatte die Regierung Janukowitsch gewählt…
Kovalov: Ja, wir haben ihr vertraut. Aber sie hat unser Vertrauen missbraucht. Janukowitsch hat der Bevölkerung der Ukraine Milliarden gestohlen. Das können ihm die Menschen nicht verzeihen. Null Chance, dass er jemals wieder Präsident sein wird. Das Schlimme ist: Janukowitsch ist nur eine Figur von vielen. Sie alle tragen dieses korrupte System.

"Krone": Haben Sie keine Angst, wenn Sie so offen über die Machthaber in der Ukraine sprechen?
Kovalov: Natürlich ist da auch Angst. Aber ich habe gelernt, dass Tapferkeit nicht bedeutet, keine Angst zu haben, sondern trotz Angst das zu tun, was man tun muss. Außerdem müssen alle Menschen sterben. Die Frage ist nur wie... (denkt kurz nach) Je mehr Menschen sie töten, desto mehr Menschen werden sich gegen sie auflehnen.

"Krone": Welche Rolle spielt Vitali Klitschko?
Kovalov: Er ist Teil von vielen Oppositionskräften. Er hat nicht so viel politische Erfahrung. Am Maidan hat man gespürt, dass er ein guter Boxer ist, sehr zielstrebig. Aber wählen werde ich ihn nicht.

"Krone": Hätte die Revolution so viel weltweite Aufmerksamkeit bekommen ohne Klitschko?
Kovalov: Wahrscheinlich nicht. Aber die Ukraine hat lange genug alles für die anderen gemacht: für die Sowjetunion, für Amerika, für die Banken. Jetzt muss das Land seinen eigenen Weg gehen. Deshalb hoffe ich, dass auf dem Maidan eine neue Politiker-Generation heranwächst, die das Land führen kann.

"Krone": Wenn Sie an die Straßenschlachten vor zwölf Tagen zurückdenken: Hat sich Ihr Kampf gelohnt?
Kovalov: Ich glaube ja. Aber natürlich wissen wir nicht, wie es jetzt in der Ukraine weitergeht.

"Krone": Wird die Ukraine Ihrer Meinung nach auseinanderfallen?
Kovalov: Das wollen die Menschen nicht. Sie wollen auch keinen Krieg. Sie wollen, dass die Ukraine eines Tages ein gutes Land zum Leben sein wird. Ein Verbindungsland zwischen Russland und der EU, zwischen Ost und West.

"Krone": Fühlen Sie sich eigentlich privilegiert, dass Sie in Wien medizinisch versorgt werden?
Kovalov: Ich bin Österreich dankbar. Ich sitze im Warmen und bekomme mein Essen. Aber ich habe Heimweh nach Kiew. Mein Platz ist auf dem Maidan, beim ukrainischen Volk.

"Krone": Werden Sie und Oksana einmal am Maidan heiraten?
Kovalov(nimmt Oksanas Hand): Sie hat mir am Maidan das Leben gerettet. In meinen Augen sind wir schon verheiratet.

Seine Geschichte
Geboren am 20. Oktober 1974 in Kiew. Anton Kovalov ist Maler, Schriftsteller und Computergraphiker. Er und ein anderer Demonstrant trugen bei Protesten am Maidan schwere Augenverletzungen davon. Im Zusammenspiel zwischen Außenministerium (Botschaft Kiew und OeAD-Kooperationsstelle Lemberg), Rotem Kreuz, Stadt Wien, AUA, Rotari International, Rudolfstiftung und ukrainischer Botschaft werden die beiden in Wien kostenfrei ärztlich versorgt.

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