EU ringt um Antwort

Halbe Million Flüchtlinge drängt heuer nach Europa

Österreich
20.04.2015 18:35
800 Menschen sind am Wochenende beim Untergang eines Flüchtlingsschiffes im Mittelmeer ertrunken, Hunderte weitere gerieten am Montag in Seenot: Die Risiken, die Flüchtlinge auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen, sind enorm. Dennoch lassen sich die Menschen nicht abhalten. Alleine in diesem Jahr, so rechnet das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR, wird eine halbe Million Menschen über das Meer in Richtung EU aufbrechen.

Österreichs Politiker fordern deshalb einmal mehr Flüchtlingslager in Nordafrika. "Unrealistisch", erteilt das UNHCR dem Vorschlag jedoch vorerst eine Abfuhr. Italien erwägt indes gezielte "Attacken gegen Menschenschmuggler".

Als erste Reaktion auf die jüngsten Flüchtlingsdramen im Mittelmeer wurde kurzfristig ein Krisentreffen der EU-Außen- und Innenminister in Luxemburg einberufen. Doch die Gespräche sind zäh, von Ergebnissen ganz zu schweigen. Denn die Probleme sind komplex: Sie umfassen Kriege, Diktaturen, Staatszerfall, Dürren und Hunger in den Herkunftsländern der Migranten.

Gedämpfte Erwartungen vor EU-Sondergipfel zu Flüchtlingen
Für Donnerstag wurde nun ein Sondergipfel in Brüssel einberufen. EU-Ratspräsident Donald Tusk berief das Spitzentreffen am Montag ein, wie er auf Twitter bekannt gab. Er kam damit einer Forderung von Italiens Regierungschef Matteo Renzi und des britischen Premiers David Cameron sowie mehrerer ihrer Kollegen nach.

Allerdings dämpfte Tusk zugleich die Erwartungen vor dem Sondergipfel: "Ich erwarte keine raschen Lösungen zu den Ursachen der Migration - weil es keine gibt." Ziel des Gipfels sei eine Diskussion auf höchster Ebene darüber, was die Mitgliedsstaaten und die EU machen müssten, um die Lage jetzt zu entschärfen. Tusk betonte, wenn es rasche Lösungen gäbe, hätte die EU sie schon längst gewählt. "Aber ich erwarte, dass die EU-Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst Optionen zur unmittelbaren Handlung präsentieren." Er erwarte außerdem, dass die EU-Staaten unmittelbar Beiträge leisten.

Bundespräsident Heinz Fischer, erschüttert über die jüngste Flüchtlingstragödie im Mittelmeer, erklärte, die Flüchtlingsfrage sei "nun endgültig zur unaufschiebbaren Aufgabe der europäischen Politik" geworden. "Europa muss nun seine Verantwortung übernehmen", forderte der Bundespräsident.

Mikl-Leitner fordert einmal mehr Asylzentren in Nordafrika
Geht es nach Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz, müssen zunächst die Kapazitäten an Rettungsschiffen und -flugzeugen erhöht werden, um möglichst viele Flüchtlinge, die in Seenot geraten, bergen zu können. In einem weiteren Schritt soll die EU gemeinsam mit dem UNHCR stabile und sichere Flüchtlingszentren in Nordafrika (etwa in Tunesien oder Ägypten) errichten, die künftig die einzige Anlaufstelle für Menschen sein sollen, die als Flüchtlinge in der EU aufgenommen werden möchten. In diesen Zentren soll dann eine Erstprüfung stattfinden.

Wer gute Chancen hat, als Flüchtling anerkannt zu werden, soll dann auf sicherem Weg in die EU gebracht werden. Menschen, die in Booten aufgegriffen werden, sollen ebenfalls nicht nach Europa, sondern auch in die UNHCR-Zentren in Nordafrika gebracht werden, so Mikl-Leitner. Damit würden die lebensgefährlichen Überfahrten sinnlos und der Schlepper-Mafia das Geschäft entzogen.

UNHCR: Mikl-Leitner-Idee unrealistisch
Für das UNHCR selbst ist die Forderung nach Flüchtlingslagern in Nordafrika jedoch "für den Moment unrealistisch", reagierte Sprecherin Ruth Schöffl auf die Forderungen der Innenministerin. Auch sei es aus UNHCR-Sicht "absolut ausgeschlossen, Menschen in geschlossenen Lagern aufzunehmen", was aber gegenwärtig der einzig realistische Weg wäre, sie von einer Flucht nach Europa abzuhalten: "Migranten einfach von Europa fernzuhalten, indem man sie irgendwo einsperrt, ist für uns nicht akzeptabel."

Auch den Ansatz von Innenministerin Mikl-Leitner, die im Mittelmeer aufgegriffenen Flüchtlinge nach ihrer Rettung wieder nach Nordafrika zurückzubringen, wies Schöffl entschieden zurück. Da sie aus Libyen flüchten würden, könnte man sie auch nur dorthin zurückbringen, und das sei angesichts der politisch instabilen Lage "unmenschlich". Viele der Geretteten seien verletzt und diese müsste man dorthin bringen, wo sie am besten betreut werden könnten. "Und das ist ganz klar Europa."

Asylzentren "noch nicht einmal Zukunftsmusik"
Langfristig sei das UNHCR bereit, "über alles zu reden, was die Leben der Asylsuchenden retten kann", gegenwärtig seien Asylzentren in Nordafrika, aber "noch nicht einmal Zukunftsmusik". Dafür müsste man zuerst einmal mit den betroffenen Ländern reden und selbst dann seien diese Zentren "nicht von heute auf morgen fertig", sagte Schöffl. Schon in Österreich würde die Errichtung eines neuen Aufnahmezentrums ein bis zwei Jahre dauern, in Libyen, wo es aktuell kein funktionierendes Asylsystem gebe, noch viel länger.

Kurzfristig ist daher, immerhin in diesem Punkt sind sich Mikl-Leitner und das UNHCR einig, eine EU-Seerettungsmission der wichtigste Lösungsansatz. Ein von Italien finanziertes Programm mit dem Namen "Mare Nostrum" lief vergangenes Jahr aus, weil sich die EU-Partner nicht an der Finanzierung beteiligen wollten. Seitdem läuft unter Führung der EU-Grenzschutzagentur Frontex die deutlich kleinere Mission "Triton", die aber vorwiegend der Sicherung der EU-Außengrenzen und nicht der Rettung der Flüchtlinge dient.

EU-Länder streiten über Verteilungsschlüssel
Ein weiterer Streitpunkt zwischen den EU-Ländern bleibt der Verteilungsschlüssel zur Aufnahme der Flüchtlinge. "Jetzt", so Ministerin Mikl-Leitner, "behandeln nur zehn EU-Staaten 90 Prozent der Asylanträge." Österreich liegt dabei hinter Schweden und Ungarn auf Platz drei, gefolgt von Malta, Dänemark und Deutschland. "Einige Länder waren bis jetzt ganz glücklich, in der Flüchtlingsproblematik keine Verantwortung zu übernehmen", ergänzte Minister Kurz. "Das wird so in Zukunft nicht mehr sein können."

EU-Außenbeauftragte: Breiter Konsens in drei Punkten
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini betonte dann nach dem Krisentreffen am Montagabend, es gebe breiten Konsens in drei Punkten. Die EU wolle demnach den Kampf gegen Schlepper und Menschenhändler verstärken und dazu ihre Präsenz im Niger ausbauen. Schiffe von Schleppern sollten zerstört werden. Konsens gebe es auch bezüglich der Rettung von Leben. Dazu sollten die EU-Grenzschutzprogramme "Triton" und "Poseidon" auch Such- und Rettungsaufgaben unternehmen. Drittens bestehe die Notwendigkeit einer geteilte Verantwortung bei der Flüchtlingsansiedlung in der EU.

Italien erwägt "Attacken gegen Banden des Todes"
Italien erwägt indes Angriffe gegen die Schlepper in Libyen. "Attacken gegen die Banden des Todes, Attacken gegen Menschenschmuggler gehören zu den Überlegungen", sagte Ministerpräsident Matteo Renzi in Rom. Es gehe allerdings nicht um einen "breiten Militäreinsatz", sondern um eine "gezielte Intervention". Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums seien mit einbezogen, um die Möglichkeit zu prüfen.

Außenminister Paolo Gentiloni hatte Angriffe auf Schleuser schon vor einigen Tagen angeregt. In einem Zeitungsinterview sagte er, es gehe um "gezielte Anti-Terror-Aktionen". Diese könnten beispielsweise im Rahmen der Angriffe gegen die Terrormiliz Islamischer Staat oder gegen Menschenschmuggler erfolgen.

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