Meine Geschichte

“Ein Leben lang suchte ich nach meinen Wurzeln”

Österreich
24.08.2016 17:16

Mit 69 Jahren durfte Gerhard zum ersten Mal seinen Bruder in die Arme schließen. Lesen Sie das Protokoll eines Mannes, der seine Wurzeln fand.

Wer wissen will, wer er ist, muss wissen, woher er kommt, um zu sehen, wohin er will. Dieses Sprichwort hat mich früher sehr traurig gemacht. Ich glaubte nämlich, dass da was dran ist. Aber was ist dann mit dem, der nicht weiß, woher er kommt? Also mit mir?

Zumindest die Dorfbewohner in meiner oberösterreichischen Heimatgemeinde meinten es zu wissen. Als sogenanntes Besatzungskind, dessen amerikanischer Vater noch vor der Geburt das Weite gesucht hatte, war man stigmatisiert. Denn meine Mutter hatte sich mit dem Feind eingelassen, und unehelich war ich obendrein. Die Ausgrenzung in der Schule war noch das Harmloseste.

Trotzdem wollte ich als Bub unbedingt meinen Vater kennenlernen. Ich hatte so viele Fragen. Auch meine Mutter konnte sie mir nicht beantworten. So blieb er meine ganze Kindheit über eine Fantasiegestalt. Doch es gab da diesen vergilbten Zettel, mit seiner Dienstanschrift. Das einzige Erinnerungsstück an ihn.

Sobald ich schreiben konnte, schickte ich Briefe nach Übersee. Mein Vater reagierte erst, als ich schon 18 Jahre alt war. Etwa 20-mal war unsere Post über den Atlantik hin- und hergegangen.

Ein Partezettel löste das Lebensrätsel auf
Aber Jimmy Price hatte wenig Interesse an mir und durchblicken lassen, dass ihm seine neue Familie wichtiger war als ich. Irgendwann kam einer meiner Briefe mit dem Vermerk "Empfänger unbekannt verzogen" zurück. Ich war niedergeschlagen und dachte: "Das war's dann." Wie enttäuscht ich war!

Die Suche nach meinen amerikanischen Wurzeln wollte ich auch nach dieser Ernüchterung nicht einstellen. Zu groß war die Sehnsucht nach der Erkenntnis, von wem ich abstamme. Beim Auflösen meines Lebensrätsels hat dann ein weitschichtiger Verwandter meiner Frau, der in Amerika arbeitet, geholfen. Auf meine Bitte hin hatte er regelmäßig die Traueranzeigen studiert. 2015 entdeckte er die Parte von "Mrs. Price" - der Frau meines Vaters, der laut Anzeige einige Zeit vor ihr gestorben war. Damit hatte ich schon gerechnet. Aber: Erwähnt waren auch die Hinterbliebenen. Also gab ich ihre Namen auf Facebook ein. Ich fand Brenda, meine Nichte, und habe ihr eine Nachricht hinterlassen.

Noch in derselben Nacht klingelte mein Telefon. Es war mein Bruder Gregory. Brenda hatte ihn sofort kontaktiert, weil sie wusste, dass er nach mir gesucht hatte.

Meine Urgroßmutter war eine Indianerin
Ab diesem Zeitpunkt haben wir jeden Tag telefoniert. Er erzählte mir von unseren indianischen und irischen Vorfahren.

Vergangenen Mai ist er dann für sechs Wochen nach Österreich gekommen, und ich habe ihm meine Heimat gezeigt. Wir waren uns auf Anhieb vertraut und haben versucht, die uns gestohlene Zeit aufzuholen.

Ich weiß nun endlich, woher ich komme und wohin ich will. Zumindest an meinem Siebzigsten nächste Woche. Ich fliege zu Gregory in die USA.

Tipps und Infos

  • Experten schätzen, dass es in Österreich 20.000 sogenannte Besatzungskinder gegeben hat. Dabei handelt es sich um die Kinder, deren Väter alliierte Soldaten gewesen waren.
  • Unterstützung bei der Suche nach den Vätern bieten die Plattform "Children born of war" (www.bowin.eu) oder das Boltzmann-Institut (www.bik.ac.at).
  • Gerhards Vorfahren sind auf den "Stamm der Osage" zurückzuführen. Dabei handelt es sich um Sioux-Indianer am oberen Missouri. Sie waren Büffeljäger und Ackerbauern. Rund 5000 Osage leben noch heute in einem Reservat in Oklahoma.

Haben Sie auch ein Schicksal gemeistert und können damit anderen Mut machen? Dann schreiben Sie bitte an: brigitte.quint@kronenzeitung.at

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