EU-"Verhaltenskodex"

So sollen NGOs künftig Flüchtlinge an Land bringen

Ausland
06.07.2017 22:45

Aufgrund der starken Flüchtlingsströme über das Mittelmeer hat Italien am Donnerstag den EU-Innenministern bei einem Treffen in Estland einen Vorschlag für einen Verhaltenskodex für Hilfsorganisationen (NGOs) vorgelegt, die Flüchtlinge mit eigenen Schiffen aus Seenot retten. Das Papier umfasst elf Punkte und enthält etwa ein Verbot der Einfahrt in libysche Küstengewässer sowie jeglicher Kommunikation mit Schleppern. Die EU-Staaten unterstützten Italiens Pläne, der Verhaltenskodex solle nun "dringend fertiggestellt" werden, hieß es.

Die Lage in Italien hatte sich zuletzt so stark verschärft, dass sich das Land an der Kapazitätsgrenze sieht. Binnen einer Woche kamen dort mehr als 12.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer an. Seit Jahresbeginn sind es laut dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) inzwischen rund 85.000, fast ein Fünftel mehr als im Vorjahreszeitraum.

Italien droht bei Verstößen mit Hafenschließung
Deshalb will Italien nun Hilfsorganisationen, die gut ein Drittel der Rettungseinsätze vor Libyen absolvieren, stärker überwachen. Unser Nachbarland drohte den Helfern, ihnen die Einfahrt in Häfen zu verweigern, wenn sie den Verhaltenskodex nicht unterzeichnen. Italien verlangt im Plan zudem, dass Hilfsorganisationen gerettete Flüchtlinge künftig selbst in sichere Häfen bringen und nicht an größere Schiffe abgeben.

Italiens Forderungskatalog an die privaten Retter:

1. "Absolutes Verbot für NGOs, in libysche Gewässer einzufahren" - außer es besteht "Gefahr im Verzug für menschliches Leben auf See".
2. Transponder zur Ortung der Rettungsschiffe dürfen nicht abgeschaltet werden.
3. Nicht erlaubt sind Telefongespräche oder die Aussendung von Lichtsignalen, die eine Abreise von Booten mit Flüchtlingen von der libyschen Küste erleichtern. Kontakte mit Schleppern sollen so unterbunden werden.
4. Außer in Notsituationen dürfen keine geretteten Flüchtlinge an andere Boote übergeben werden. Die Hilfsorganisationen werden verpflichtet, die Geretteten selbst in den nächsten "sicheren Hafen" zu bringen und nicht an Schiffe der italienischen Küstenwache oder von internationalen Einsätzen abzugeben.
5. Such- und Rettungsaktionen der libyschen Küstenwache dürfen nicht behindert werden.
6. Vertreter der Polizei, die Ermittlungen im Zusammenhang mit Schleppernetzwerken führen, müssen an Bord gelassen werden.
7. Die Finanzierung der Seenotrettung muss offengelegt werden.
8. Die Seenotrettungszentren der Staaten, unter deren Flagge die NGO-Schiffe fahren, müssen über Rettungseinsätze informiert werden, damit sie "die Verantwortung für Zwecke der Meeressicherheit übernehmen können".
9. Eine Bescheinigung muss vorliegen, die "die technische Eignung für Rettungsaktivitäten" belegt - wie sie auch normale italienische und Handelsschiffe benötigen. Zudem müssen auch Zertifikate des Flaggenstaates mitgeführt werden, die über die Einhaltung der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eingeführten Regeln zur Gefahrenabwehr auf See und in Häfen hinausgehen.
10. Zusicherung der Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitsbehörden bei der Ankunft von Migranten. Die NGO-Schiffe müssen den Behörden dabei "mindestens zwei Stunden vor Erreichen des Hafens" nach einer Rettungsaktion übliche Dokumente übermitteln, darunter solche zum Ablauf des Einsatzes und zur gesundheitlichen Situation der Geretteten.
11. Übermittlung aller Informationen, die für Ermittlungen der italienischen Polizei wichtig sein könnten, sowie die Übergabe "jeglichen Objektes, das Nachweis oder Beweis einer illegalen Handlung sein könnte".

Video: Europa steuert auf neue Flüchtlingskrise zu

EU-Minister: "Klares Regelwerk für Rettungseinsätze"
Die EU-Innenminister begrüßten am Donnerstag durch die Bank Italiens Vorhaben, ein "klares Regelwerk" für die Rettungseinsätze in einem Verhaltenskodex festzuschreiben. Das solle aber in Abstimmung mit der EU-Kommission und den betroffenen NGOs erfolgen. Italiens Innenminister Marco Minniti habe am Donnerstag in der estnischen Hauptstadt Tallinn klargemacht, dass dies "nicht eine Frage von Monaten, sondern von Tagen und Wochen" sei, hieß es. Mehrere EU-Staaten würden die Einsätze schon länger kritisch sehen, weil sie aus ihrer Sicht eine "Sogwirkung" erzeugen und noch mehr Flüchtlinge dazu bringen, sich auf den Weg nach Europa zu machen.

Kurz: "Zeigt, dass ich mit Kritik an NGOs recht hatte"
"Klare Regeln sind für NGOs notwendig. Die italienische Initiative ist ein Schritt in die richtige Richtung", sagte Außenminister und ÖVP-Chef Sebastian Kurz am Donnerstagabend in der "ZiB 2". Im März hatte Kurz die Arbeit von NGOs im Mittelmeer bereits heftig kritisiert und damals von "NGO-Wahnsinn" gesprochen. "Damals bin ich für meine Aussagen massiv kritisiert worden. Jetzt ist es klar, dass ich mit meiner Kritik recht hatte", so Kurz. Es gebe NGOs, die gute Arbeit leisten würden, und andere, deren Einsatz weniger transparent sei und dadurch die Lage im Mittelmeerraum "nicht besser" machen würde.

Eine Schieflage sei auch die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren mehr in die Rettung am Meer investiert worden sei als in die Bekämpfung der Fluchtursachen. "Dennoch sterben jedes Jahr mehr Menschen", gab Kurz zu bedenken.

Sobotka: "Mittelmeerroute muss endlich zu sein"
Auch Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP), der Österreich in Estland vertrat, sagte, er unterstütze den italienischen Verhaltenskodex "vollkommen". Die Mittelmeerroute "muss endlich zu sein. Das muss im Sommer intensiv angegangen werden."

Ärzte ohne Grenzen: "Wir schließen nur Lücken"
Es hagelte aber auch bereits scharfe Kritik am geplanten Verhaltenskodex. "Eigentlich ist es die Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedsländer, sich um die Menschen zu kümmern, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, nicht unsere. Außerdem ist es die Verantwortung der EU-Staaten, den Geretteten eine menschenwürdige Behandlung zuzusichern. Würden sie dieser Aufgabe nachkommen, würden wir uns sofort zurückziehen. Humanitäre Hilfsorganisationen wie wir sind täglich dazu gezwungen, die Lücken zu schließen, die die europäischen Staaten im Mittelmeer hinterlassen", sagte Mario Thaler, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Österreich.

Sea-Watch: "EU nimmt bewusst Tote in Kauf"
Auch die deutsche Hilfsorganisation Sea-Watch kritisierte die EU-Pläne. "Wenn wir gezwungen werden, gerettete Flüchtlinge selbst in Häfen in Italien zu bringen, werden die Einsatzkräfte zur Seenotrettung reduziert. Das bedeutet mehr tote Flüchtlinge", sagte Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer. Er warf der EU eine "Abschottungsstrategie" vor, "die bewusst Tote in Kauf nimmt".

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