Gastkommentar

Mindestsicherung braucht Reform statt Schmähung!

Österreich
06.10.2016 19:30

Yasmin liest derzeit keine Zeitung, sie schaltet das Radio aus, wenn die Nachrichten kommen. "Ich bin doch keine Sozialschmarotzerin", sagt die 39-Jährige traurig. Das Problem: Yasmin hat ihren Job verloren und sie ist mittlerweile auf Mindestsicherung angewiesen - so wie sehr viele andere Österreicher auch. Wenn sie aktuell ständig liest und hört, dass bei Menschen wie ihr noch mehr gespart werden soll, sagt sie: "Ich drehe jetzt schon jeden Euro dreimal um. Es ist nicht leicht, mit 837 Euro im Monat über die Runden zu kommen. Ich bin oft verzweifelt und weiß nicht, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll."

Ich kann Yasmin verstehen. Die Art und Weise, wie derzeit über Menschen in Not gesprochen und berichtet wird, tut mir weh. Oft wird so getan, als ermögliche die Mindestsicherung ein Leben in Luxus. Die Wahrheit ist: Sie verhindert ein Abrutschen in totale Armut - von Männern, Frauen und besonders erschreckend von vielen Kindern. Sie verhindert Obdachlosigkeit und Krankheit. Sie verhindert Hoffnungslosigkeit und Elend.

Wovon reden wir eigentlich? Hier ein paar Fakten:

  • Oft wird behauptet, wir könnten uns die Mindestsicherung nicht leisten. Das ist falsch. Insgesamt werden nur 0,8 Prozent (!) des gesamten Sozialbudgets für die Mindestsicherung aufgewandt. Und nur zum Vergleich: Mittlerweile besitzt 1 Prozent der Bevölkerung bereits 37 Prozent des gesamten Vermögens in unserem Land. Ist das gerecht? Ich glaube: nein. Das macht deutlich: Wir können uns einen funktionierenden Sozialstaat leisten. Was wir uns nicht leisten können, ist ohne ihn zu sein.
  • Es heißt, Mindestsicherungsbezieher wären zu faul zum Arbeiten. Das ist falsch. Es gibt derzeit schlicht deutlich mehr arbeitslose Menschen als offene Stellen. Wer die Zahl der Mindestsicherungsbezieher verringern möchte, sollte nicht die Armutsbetroffenen bekämpfen, sondern lieber dafür sorgen, dass es wieder genügend Arbeit gibt, von der man leben kann. Aus dem Vorjahr wissen wir, dass knapp drei Viertel aller Menschen die Mindestsicherung nicht in voller Höhe erhalten. Warum? Sie haben etwa eine Arbeit, doch sie können von ihrem Gehalt nicht mehr leben. Teilzeitjobs. Befristet und auf Zeit. Neben dem Mini-Einkommen oder der Notstandshilfe sind viele auch auf einen kleinen Teil der Mindestsicherung (im Schnitt 310 Euro) angewiesen. Nur diese Unterstützung verhindert, dass sie nicht bettelarm sind.
  • Vielen Menschen wird unterstellt, lieber in der sozialen Hängematte abzuhängen als arbeiten zu gehen. Das ist falsch. Es gibt KEINE Wahlfreiheit zwischen "arbeiten gehen" und "Mindestsicherung beziehen". Der Bezug der Mindestsicherung ist an klare Auflagen geknüpft - das Privatvermögen muss weitestgehend aufgebraucht sein, hat man ein Haus oder eine Eigentumswohnung, kann sich das Sozialamt nach sechs Monaten ins Grundbuch eintragen lassen. Bezieher von Mindestsicherung müssen Jobangebote oder Trainingsmaßnahmen vom AMS annehmen, oder der Bezug wird gekürzt, im Extremfall auch zur Gänze.

Unser Appell als Caritas lautet: Die Mindestsicherung muss reformiert, sie darf nicht diffamiert werden! Wir benötigen ein echtes Reformpaket!

  1. Oberstes Ziel muss eine einheitliche, österreichweite Mindestsicherung sein. Die Mindestsicherung muss alle Menschen gleichermaßen vom Bodensee bis zum Neusiedlersee vor bitterer Armut schützen.
  2. Ein Dach über dem Kopf muss sichergestellt sein und darüber hinaus muss ein Leben in Würde möglich sein.
  3. Wir benötigen eine Mindestsicherung, die sich an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientiert - die ein Dach über dem Kopf sicherstellt und die ein Leben in Würde ermöglicht.
  4. Wir brauchen volle Transparenz, eine regelmäßige Veröffentlichung der Zahlen wie bei der Arbeitslosenstatistik.
  5. Es braucht Maßnahmen, damit es wieder mehr Arbeitsplätze gibt. Es geht um Arbeit, von der man leben kann.

Manche finden es ungerecht, dass Menschen auf der Flucht, die hier Asyl erhalten, auch Mindestsicherung bekommen. Ich nicht. Warum? Ich glaube, der Name Mindestsicherung ist hier nicht passend. In Wirklichkeit geht es ja um eine Starthilfe für den Neuanfang in Österreich, von dem alle profitieren. Während sie diese Starthilfe erhalten, sollen die Menschen Deutsch lernen, eine Ausbildung absolvieren und sich eine Arbeit suchen können. Darum geht es. Um nicht mehr und um nicht weniger, und das können wir auch einfordern.

Yasmin sagt: "Politiker, die die Mindestsicherung als zu hoch empfinden, lade ich gerne ein, einen Monat mit 837 Euro auszukommen. Da geht es nicht nur um Menschen auf der Flucht, die wollen auch bei mir kürzen." Würden sie dieser Einladung nachkommen, sähe die Welt vermutlich anders aus. Vielleicht sollten sie aber auch in die Obdachloseneinrichtung Gruft kommen und dort ihre Verhandlungen führen. Sie sind dort auf alle Fälle genauso herzlich willkommen wie obdachlose Menschen, die im Vorjahr dort mehr als 110.000 warme Mahlzeiten erhalten haben.

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