"Krone"-Rezension

Pop-Künstlerin Grimes: Jagd auf Lady Gaga

Musik
16.12.2015 12:26

Mit "Visions" gelang der kanadischen Artpop-Künstlerin Grimes vor drei Jahren der breitflächige Durchbruch - nach einem physischen Zusammenbruch und künstlerischer Entschlackung meldet sich die 27-jährige Claire Boucher nun mit ihrem neuen Werk "Art Angels" zurück und rüttelt damit unbewusst am Thron der etablierten Pop-Königinnen.

(Bild: kmm)

In ihrem Kinderzimmer hing ein Poster von Britney Spears neben dem von Marilyn Manson, sie sieht ihre eigene Musik in einem breiten Feld zwischen Pop und Avantgarde verortet und versteckt sich im Business hinter einer selbst erschaffenen Persönlichkeit, wohl auch um die nötige Dosis Punk aus den wilden Jugendtagen nicht ganz dem öffentlichen Mainstream opfern zu müssen. Die kanadische Künstlerin Grimes ist in Übersee bereits eine sehr große Nummer und rotiert auch hierzulande seit Jahren beständig auf den Plattentellern kundiger Alternative-DJs, die keine Angst davor haben, ihren Hornbrillen-Partys auch eine kräftige Prise Radio-Pop beizumengen.

Geschliffener Brillant
Lady Gaga gelang mit ihrem Debütalbum "The Fame" einst ein Manifest des Girl-Pops. Endlich gab es wieder ein Album einer weiblichen Pop-Künstlerin, das spannend, innovativ und neuartig war. Katy Perry war zu brav, Madonnas Zeit war abgelaufen und Megastar Taylor Swift noch im Country verankert. Doch im Schatten der mit Fleischkleid und viel Exzentrik auftretenden Diva Gaga formte sich in einer kleinen Montrealer Künstlerwohnung ein Brillant, der sich innerhalb kürzester Zeit vom angesagten Pitchfork-Indie-Tipp zum massentauglichen Internet-Phänomen entwickelte.

"Geidi Primes" und "Halfaxa" gab es 2010 noch zum freien Download, mit "Visions" gelang Claire Boucher, so Grimes' bürgerlicher Name, zwei Jahre später der große Durchbruch, der ihr noch heute unheimlich ist. So wie Stefani Germanotta sich hinter Lady Gaga versteckt, versteckt sich Claire Boucher hinter Grimes. Ihr Alter Ego hat sie sich vor einem Konzert zugelegt, um hinter dieser selbst erschaffenen Fassade von der eigenen Nervosität abzulenken. Aus der Verlegenheitslösung wurde schließlich ein Kunstprodukt - Boucher ist die völlig normal in Montreal lebende, sehr unscheinbare Privatperson, Grimes die fleischgewordene, grelle Erfolgsmaschinerie aus dem Land des Ahornblattes. "Ich kann Grimes ein- und ausschalten, je nachdem wie ich sie brauche", erzählte Boucher unlängst dem "Zeit Magazin", "das KISS-Make-Up etwa ist nur eine Hülle, Grimes geht aber tiefer. Es ist eher wie eine Theaterrolle, man wird eins mit dem fremden Charakter."

ADHS für alle
So mystisch und überkandidelt wie das Image ist auch die Entstehungsgeschichte. Grimes selbst bezeichnet ihren Avantgarde-Pop gerne als "ADHS-Musik" und fand den Zugang im Alter von 20, als sie plötzlich verstand, wie Songs, Strukturen, Harmonien und Melodien aufgebaut waren. Fortan flossen die Ideen nur so raus, mit allerlei elektronischem Instrumentarium kreiert Grimes seither ihre Musik - auf fette Studios und bekannte Produzenten im Schmelztiegel L.A. verzichtet sie bewusst, um themen- und zeitunabhängig an ihren Ideen feilen zu können. Nach dem durchdringenden "Visions"-Erfolg erlitt sie eine physischen Zusammenbruch, war vom Tourleben, dem Glanz und Glamour des Musikgeschäfts, aber auch von den Falschmeldungen und aus dem Kontext gerissenen Zitaten der Medien ermüdet.

Drei Jahre später erscheint mit "Art Angels" nun ein Album, das die wieder gesundete Sängerin endgültig zu den ganz großen Pop-Künstlerinnen machen könnte. Kurioserweise schafft sie es gleichermaßen eingängiger als auch experimenteller zu klingen, versucht sich abermals im Erschaffen bislang unbekannter oder zumindest ungewohnter Soundkonstrukte und ummantelt die elektronischen Abfahrten mit ihrer picksüßen Girlpop-Stimme. Grimes-Puristen, so es nach der bislang kurzen Karriere welche geben sollte, zetern auf den Social-Media-Plattformen bereits über den Ausverkauf der Unangepassten, übersehen dabei aber, dass die Kanadierin noch immer ihr ureigenes Soundgebräu einsetzt und dadurch angenehm aus der Konformität der Popwelt heraussticht.

Björk ante portas?
Zu exakt analysiert und hinterfragte sie im Produktionsprozess ihre eigenen Ideen, Produktionsprozesse und Umsetzungen, stimmlich legt sie nach wie vor bis zu 50 Schichten auf die fertig gepresste Platte. Perfektion ist auf "Art Angels" nicht alles, aber vieles. Eingängige, radiotaugliche Nummern wie "California" oder "Flesh Without Blood" vermischen sich gekonnt mit obskuren Klangabfahrten á la "Scream" oder "Venus Fly" - immer dann, wenn sich der Hörer in relaxter Sicherheit fühlt, stört ein verzerrter Bass, eine Hip-Hop-Referenz oder eine an den Hedonismus von Die Antwoord gemahnende Techno-Line die Gemütlichkeit. Grimes paralysiert und fordert, hat zudem mit "Kill V. Maim" eine Nummer am Start, die das Zeug zum großen Klassiker hat. Genau das macht sie zur besseren Lady Gaga, denn man muss sich den Zugang zu ihren kruden Klangkaskaden erst einmal erkämpfen und wird nicht über die volle Spielzeit mit bekömmlichen Radio-Pop überschüttet. Eine Kooperation mit Björk wäre eigentlich der nächste logische Schritt…

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