Konzert & Interview

Noel Gallagher: Working-Class-Hero mit Verve

Musik
13.04.2016 01:33

"Justin Bieber, Adele, Taylor Swift - keiner dieser Künstler hat jemals einen Song geschrieben, der die heutige Welt und ihre Probleme reflektiert." Noel Gallagher gehört immer noch zu den Unangepassten, Unbequemen und Kritischen. Das einstige Oasis-Mastermind machte Dienstagabend im Wiener Gasometer Station, um eine bunte Mischung aus Oasis- und High-Flying-Birds-Songs zu spielen. Im Interview davor stand er uns - gewohnt direkt und erfrischend aufgeweckt - zu verschiedensten Themen Rede und Antwort.

(Bild: kmm)

Luxusprobleme sind auch Probleme. So ging es den Musikfans am Dienstag in Wien, wo mit Florence + The Machine in der Stadthalle, Chris Cornell im Konzerthaus und Noel Gallagher's High Flying Birds im Gasometer gleich drei Bands die Klingen kreuzten, um ein stilistisch ähnlich verortetes Publikum einzufangen. Mit den fetten Oasis-Jahren kann das Songwriter-Genie Gallagher natürlich niemals konkurrieren, aber 2.500 Fans sind eine durchaus respektable Marke für die fast 50-jährige Britpop-Legende, die sich schon davor im Interview zum Status Quo deklarierte: "Ich bin mittlerweile selbstsicherer in der Rolle des Frontmannes. Aber wahre Frontmänner sind andere: Mick Jagger, Johnny Rotten oder mein Bruder Liam."

Geister der Vergangenheit
Die Bescheidenheit muss nicht sein, denn Noel ist die Rolle mittlerweile lange genug gewohnt und füllt sie auch in Wien hervorragend aus. Nach dem Opener "Everybody's On The Run" lässt er gleich drei Songs seines starken aktuellen Werks "Chasing Yesterday" vom Stapel, ehe mit "Talk Tonight" der erste von insgesamt zehn Oasis-Songs Einzug findet. Fast die Hälfte des Sets füllt Noel mit Material der erfolgreichsten Britpop-Band aller Zeiten, die Geister der Vergangenheit wird man auf diesem Level nur schwer los. Im Gegensatz zu den Kämpfen mit Bruder Liam, hat er mit seiner eigenen Legende aber längst Frieden geschlossen: "Ich spiele gerne das, was das Publikum hören will, solange ich auch meine Songs durchziehe. Songs wie ,Rock'n'Roll Star', ‚Cigarettes & Alcohol' oder ,Live Forever' gibt es ohnehin nicht, weil ich keine Lust darauf habe."

Viel mehr Spaß hat Noel daran, die richtigen Die-Hard-Fans zu befriedigen. Statt der allergrößten Hits genießt der Brite es, B-Sides und Outtakes in das Set einzubauen und damit für einen Hauch von Exklusivität zu sorgen. "D'yer Wanna Be A Spaceman?" oder "Listen Up" aus den Frühzeiten der Band sind Schmankerl, die es nicht jeden Tag zu hören gibt. Unterstützt wird die routiniert aufspielende Band von einer dreiköpfigen Bläsersektion und meist etwas unglücklichen, weil altertümlichen Visuals auf der Videoleinwand. Doch visueller Firlefanz war schon bei Oasis unnötiges Beiwerk und ist auch im Mantel der High Flying Birds unwichtig. Viel wichtiger sind die Spielfreude und der immer wieder aufblitzende, subtil-proletarische Humor von Noel, der seine Band hervorragend dirigiert und überraschend gut bei Stimme ist. Im Gegensatz zum nasalen Liam trifft Noel die Töne mit mehr Power und übermittelt somit eine gewisse Rohheit.

Überraschung beim Top-Hit
Bei derartigem Kultmaterial müssen die eigenen Songs unweigerlich zurückstecken. Auch wenn Noel im Post-Oasis-Zeitalter den Songwriter-Kampf gegen sein Bruderherz und dessen Band Beady Eye eindeutig gewonnen hat, merkt man auch hier wieder schmerzlich, dass zwischen Oasis und allen anderen Songs noch einmal eine große Kluft herrscht. Auch wenn der Ohrwurm "The Heat Of The Moment", "Riverman" oder "The Mexican" absolute Top-Kompositionen sind, können sie nicht an Nummern wie "Champagne Supernova" heranreichen. Dass Noel den All-Time-Klassiker "Wonderwall" in Vers und Refrain verformt, behagt offensichtlich nicht jedem, zeigt aber deutlich, dass er sich emanzipieren kann, ohne eine unverzichtbare Nummer ganz außen vor zu lassen.

Hier wird einem wieder gewahr, welch großer Songwriter Noel eigentlich ist und warum er für 99,9 Prozent aller großen Oasis-Hits verantwortlich zeichnet. Dementsprechend kann man auch das gestandene Selbstvertrauen des Künstlers nachvollziehen: "Wo sind denn all die guten Songwriter? Jimmy Page und Robert Plant waren zusammen, ebenso Mick Jagger und Keith Richards. Es gibt aber ganz wenige Songwriter, die eigenständig sind. Neben mir fallen mir da nur noch Pete Townshend und Ray Davies ein." Noel ist ein Instinktmusiker - sowohl im Songwriting als auch auf der Bühne, was immer wieder zu leicht veränderten oder improvisierten Teilen führt, die für alle Beteiligten die nötige Abwechslung in die tägliche Routine bringt.

Tod der Jugendkultur
Die Musikwelt selbst sieht er längst am absteigenden Ast: "1996 waren Oasis das größte Pop-Phänomen, heute ist es Adele. Was ist in diesen 20 Jahren alles passiert, dass wir nun mit diesem Showbiz-Scheiß zurande kommen müssen?" Obwohl selbst nicht politisierend, fehlt Noel bei den jungen Künstlern eine klare Positionierung und charakterliche Besonderheiten. "Als fast 50-Jähriger brauche ich mich nicht mehr dazu zu artikulieren. Aber Justin Bieber, Adele, Taylor Swift - keiner dieser Künstler hat jemals einen Song geschrieben, der die heutige Welt und ihre Probleme reflektiert. Die Jungen haben aufgegeben. Die jungen Musiker verpflichten das Publikum nicht mehr dazu, sich Gedanken zu machen. Die Jugendkultur stirbt."

Für Noel müssen auch die Konzerte eine leidvolle Erfahrung sein, wo sich ihm - auch in Wien - bei den bekanntesten Songs die Handykameras entgegenstrecken, um mit eingeschaltetem Blitz für Momentaufnahmen zu sorgen, die zu einem großen Teil nie wieder aufgerufen werden. "Wie denkt ein Teenager heute? Wenn etwas nicht auf seinem Telefon ist, dann existiert es nicht. Heute kannst du die Menschen bestehlen und sie würden es nicht einmal merken, weil sie unentwegt in ihre Fernseher, Smartphones und iPads starren. Wenn ich heute einen 16-Jährigen frage, was der Gaza-Strip ist, glaubt er, das wäre ein Nachtclub in London." Noel ist in den letzten Jahren längst zum Elder Statesman des Pop geworden, eine Art allwissende Müllhalde, die sich jeglicher Political Correctness und Geschäftsunterwerfung entzieht, um einsam kämpfend die Flagge des unangepassten Proletariats hochzuhalten.

Kämpfer für das Proletariat
So ist das abschließende "Don't Look Back In Anger", die vertonte Fußballhymne für die bierbäuchige Gröl-Fraktion, das umschließende Statement für eigentlich alles, was mit Noel und seiner Karriere zu tun hat. Es gibt tatsächlich keinen Grund für Groll und Wut, die Welt ist okay und dank Künstlern wie Noel Gallagher auch im Musikgeschäft manchmal noch echt und greifbar. Es ist Musikern wie ihm zu verdanken, dass das Wort Entertainment als Sammelbegriff für Performance, Songwriting und musikalische Fertigkeit überhaupt noch existiert und sich gegen glattgebügelte Plastikproduktionen und inhaltsleere PR-Lyrics seinen Platz behauptet. Dafür darf man auch mal danke sagen, selbst wenn es Oasis vielleicht nicht wieder geben sollte.

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