"Everything Now"

Arcade Fire: Transformation zur Disco-Tanzband

Musik
20.07.2017 15:48

Vier Jahre nach dem umstrittenen "Reflektor" entfernen sich Arcade Fire mit dem neuen Album "Everything Now" noch weiter von den alten Indie-Fans. Was für manche schockierend anmutet, ist aber nur der logische Weg in die nächste Karriereebene. Die Kanadier suchen den Mainstream, ohne sich zu stark daran anzubiedern.

(Bild: kmm)

Kaum eine Band im Indie-Rock-Sektor hat trotz ihrer Eigenwilligkeit den Mainstream so herzhaft und ehrlich erobert, wie Arcade Fire. Als die Kanadier im Herbst 2004 mit ihrem Debütalbum "Funeral" ins breite Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten, revolutionierten sie ihre Szene so nachhaltig, wie es in diesem Jahrtausend nur wenigen Bands gelang. Da erdreistete sich ein wild musizierendes Hippie-Kollektiv mit allerlei Instrumentarium und Ideenreichtum unterschiedlichste Genres so gekonnt in einen Topf zu werfen, dass man den weitgefassten Begriff Indie-Rock erst einmal neu definieren musste. Zahlreiche Epigonen versuchten den Genius der Nordamerikaner zu kopieren, es war von Anfang an offensichtlich, dass sie alle kläglich scheitern würden. Überlange Kompositionen paarten sich mit schier unendlichem Selbstvertrauen. Die Heiligsprechung der renommierten Musikpresse und die Ehrfurcht ihrer immer größer werdenden Fanschar tat das Ihre zur Kultwerdung bei.

Live-Zelebration
Auch die weiteren Studioalben waren in sich geschlossene Meisterwerke, deren Glanz aber immer stärker bröckelte. Das 2013 veröffentlichte "Reflektor" hinterließ einen immer noch andauernden, schalen Nachgeschmack bei der treuen Fangemeinde, da sich Win Butler, Regine Chassagne und Co. erstmals dem Mainstream-Pop hingaben und die schüchterne Eremiten-Attitüde gegen kompositorische Großspurigkeit tauschte. Die Live-Konzerte waren aber auch weiterhin vertonte Zelebrationen des schönen Lebens. Es gibt kaum jemanden, der sein sauer erspartes Eintrittsgeld für eine Arcade Fire-Show jemals bereut hätte.

In Österreich war die Band nur äußert selten zu Gast, aber wenn man in den durchschnittlich fünfjährigen Abständen zur Audienz lud, dann wurde es mit großer Sicherheit sakral. Unlängst überzeugten Arcade Fire beim märchenhaften "Ahoi! Full Hit Of Summer" auf der Linzer Donaulände, wo sich rund 8.000 Alternative-Connaisseure den opulenten Songs hingaben und dabei die hinter dem Pöstlingberg verschwindende Sonne beobachten durften.

Reflektierte Schönheit
Was für den Arcade Fire-Konzertjunkie und Nachreisenden als "gut aber routiniert" abgetan wurde, wusste Band-Jungfrauen im Publikum restlos zu begeistern. Ein gutes Viertel der Show in der österreichischen Industriehauptstadt bestand aus Nummern des neuen Studioalbums "Everything Now", auf dem sich Arcade Fire endgültig von den Wurzeln ihrer Vergangenheit lösen. Die an ABBA gemahnende Single "Everything Now" deutete es schon vor Monaten an - die Kanadier haben zumindest vorerst keine Lust, sich wieder auf die jungen Indie-Rock-Tage zu besinnen, sondern geben sich lieber als zeitgemäße und coolere Variante von U2, ohne in deren Affektiertheit und Beliebigkeit zu fallen. "Wichtig war uns, endlich mal ein kürzeres Album zu machen", erzählte uns Keyboarder Will Butler im Interview vor dem Auftritt in Linz, " wir wollten die Schönheit der Musik reflektieren, haben daher mit vielen Sounds gespielt und uns darauf konzentriert, damit die ganze Welt zu umfassen."

Bescheidenheit war noch nie die Stärke Arcade Fires, deren kometenhafter Aufstieg und das stete Verbleiben am Charthimmel aber nie die Mystifizierung der Bandmitglieder ruinierte. Wie bei nur wenigen Bands dieser Größenordnung lebt der Geist der Kanadier durch das Kollektiv, auch wenn das Ehepaar Win Butler und Chassagne die Bühnenfront einnimmt und der Band die nötige Identität gibt, die man als Postermotiv in coolen Indie-Kinderzimmern benötigt.

Kapitalistischer Sound
"Everything Now" ist aber nicht nur eine akustische Zurschaustellung der "neuen" Arcade Fire, sondern auch ein Zeitdokument der Generation Internet, der die Kanadier aus guten Gründen stark verbunden sind. "Wir sind die großen Gewinner dieser Generation. Die jungen Leute haben damals unser Debütalbum im Netz entdeckt, es runtergeladen und sind dann scharenweise zu unseren Konzerten gepilgert. Man muss das Ganze nicht immer verteufeln." "Everything Now" war zudem das erste Album, das die Band vorwiegend in den USA, genauer gesagt in New Orleans, einspielte. "Ein spezieller Ort, der historisch, als auch musikalisch eine ganz eigene Luft atmet. Ich glaube, man hört auf unserem Album eine gewisse Art von optimistischen Kapitalismus, der für Amerika üblich ist."

Auch wenn die Synthies, 80er-Pop-Referenzen und eine natürliche Großspurigkeit überhandnehmen, beziehen Arcade Fire ihre Haupteinflüsse immer noch aus der unmittelbaren Umgebung. "Familie, Nachbarn und Freunde. Das waren und sind unsere Haupteinflüsse. Wir lassen unsere Kunst ganz bewusst mysteriös aus uns herauswachsen, ohne viel zu formen oder vorzuplanen. Nur so fließt bei uns die Kreativität." Arcade Fire sind aufgrund ihres breiten Soundspektrums längst eine generationenübergreifende Band geworden. Das 16-jährige Indie-Kid kann seine Lieblinge genauso abfeiern wie rüstige Musikliebhaber im Rentenalter. "Wir haben einige Menschen von ihrer Jugend hindurch ins Erwachsenenalter begleitet, was eine ziemlich coole Vorstellung ist."

Der Indie-Thron wackelt
"Everything Now" ist aber nicht nur ein neues Karrierekapitel, sondern ein weiterer Versuch, an der eigenen Unsterblichkeit zu basteln. "Ich träume davon, dass unsere Kunst ewig weiterlebt und die Menschen so begleitet, wie es auch große Bücher tun", erklärt Will Butler mit Glänzen in den Augen. Ob das mit einem mit beiden Beinen rausgestreckten Sprung in den Mainstream gelingt, das entscheiden schlussendlich die Fans. Arcade Fire liefern mit dem neuen Werk sommerlich-popkulturelle Unterhaltung, die sich schnell in den Gehörgängen verankert und in seinen besten Phasen sogar dem großen David Bowie huldigt. Das ist nicht mehr innovativ und gefährlich, dafür aber von leichtfüßiger Eleganz gezeichnet.

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