Ohne Zukunft

Nokias MeeGo-Handy N9: Ein Stück tote Technik im Test

Elektronik
07.11.2011 10:19
Spätestens seit der Betamax, der HD-DVD oder Microsofts Kin-Smartphones wissen wir: Nicht jede Entwicklung kann sich langfristig am Markt behaupten. Dass Produkte jedoch schon zum Scheitern verurteilt sind, bevor sie überhaupt erscheinen, ist eher selten. Nokias N9, das erste und zugleich letzte Handy der Finnen auf Basis der gemeinsam mit Intel entwickelten Plattform "MeeGo", scheint jedoch so ein Fall zu sein. Eigentlich schade, denn sowohl Hard- als auch Software überzeugen im Test.

Mit seiner eigenen Symbian-Plattform ins Hintertreffen geraten, hatte Nokia lange Zeit große Hoffnungen in MeeGo gesetzt. Gemeinsam mit dem US-Chiphersteller Intel sollte die Plattform ein Gegengewicht zu Googles Android bilden und dem finnischen Handyhersteller helfen, im hart umkämpften Smartphone-Markt zu Apple und Co. aufzuschließen.

Ziemlich genau ein Jahr nach der ersten Ankündigung im Februar 2010 folgte jedoch bereits das Aus für die Zusammenarbeit: Nokia leitete eine Strategiewende ein und verbündete sich mit Microsoft. Das mobile Betriebssystem der Redmonder, Windows Phone 7, sollte fortan zur zentralen Smartphone-Plattform von Nokia werden. Das MeeGo-Engagement der Finnen war damit beendet und Intel enttäuscht.

N9 soll "Innovationskraft" Nokias unterstreichen
Ende Juni kündigte Nokia allerdings überraschend an, wenigstens ein Gerät auf MeeGo-Basis zu veröffentlichen: das Nokia N9. Entscheidende Märkte wie Japan, die USA, Großbritannien oder Deutschland sind davon allerdings ausgenommen. In Österreich ist das N9 seit 14. Oktober erhältlich – um die "Innovationskraft" von Nokia zu unterstreichen, wie Nokia-Österreich-Chef Martin-Hannes Giesswein begründete.

Alles an Bord
Und innovativ ist das N9, wie man sowohl mit Blick auf die Soft- als auch die Hardware anerkennen muss. Zur Ausstattung des 135 Gramm leichten Handys zählen wahlweise 16 oder 64 GB interner Speicher, eine 8-Megapixel-Kamera samt LED-Blitz auf der Rückseite, die nicht nur flott auslöst, sondern bei Bedarf auch hochauflösende Videos in 720p dreht, eine Frontkamera für Internettelefonie, GPS, schnelles WLAN, UMTS/HSDPA sowie ein NFC-Chip zur kabellosen Koppelung von Geräten und den Austausch von Daten. Für die nötige Leistung sorgen ein 1-GHz-Prozessor sowie ein Gigabyte RAM, für den passenden Sound Dolby Digital Plus.

Versteckt wird all dies unter einem 3,9 Zoll großen, leicht gewölbten und nicht spiegelnden AMOLED-Display mit einer Auflösung von 480 x 854 Pixeln, das von einer Schicht robustem Gorilla-Glas geschützt wird. Zusammengehalten wird die gesamte Technik schlussendlich von einer wahlweise blauen, pinken oder schwarzen Hülle aus widerstandfähigem Polycarbonat, die nicht nur zeitlos klassisch aussieht, sondern sich auch äußerst anschmiegsam anfühlt.

Bis auf gefräste Lautsprecheröffnungen an der Unterseite des Handys, eine Lautsprecher-Wippe und einen Einschaltknopf an der Außenkante sowie einen 3,5-mm-Kopfhörereingang und zwei Abdeckungen an der Oberseite, unter denen sich ein Mini-USB-Port sowie ein Micro-SIM-Schacht verbergen, gibt es vorerst von außen nicht mehr zu entdecken, zumal der Akku, dessen Laufzeit im Mischbetrieb bei zwischen sieben und elf Stunden liegt, etwa wie bei Apples iPhone fix integriert ist.

Mit einem Wisch ist alles Weg
Einen Zurück- oder Menü-Button gibt es demnach nicht. Erstmals in der Nokia- Geschichte erfolgt die Menü-Führung damit gänzlich ohne Tasten. Navigiert wird stattdessen durch einfaches Antippen und Wisch- Bewegungen - von Nokia "Swipe" genannt. Das ist zunächst irritierend, da beispielsweise Apps nicht wie gewohnt mittels "Schließen" beendet, sondern einfach weggewischt werden. Das führt mitunter anfangs auch dazu, dass Programme durch eine unvorsichtige Bewegung versehentlich beendet werden. Bereits nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sind diese Eigenheiten jedoch vertraut und die Navigation geht problemlos von der Hand.

Übersichtliche Darstellung
Im Mittelpunkt der Menüoberfläche stehen drei Homescreens (siehe Diashow oben), die sich mit einem Swipe zur Seite „durchwischen“ lassen. Auf dem ersten Screen werden alle verfügbaren Apps in fast schon gewohnter Manier mittels kleiner Icons dargestellt, während der zweite Screen eine Übersicht über alle zuletzt geöffneten Anwendungen bietet. Bei Bedarf kann hierbei mittels Fingerzeig in die Ansicht hinein oder heraus gezoomt werden. Der dritte Screen ist schließlich so etwas wie die Kommunikationszentrale, in der Informationen über verpasste Anrufe, Mitteilungen und Live-Updates der Freunde aus Facebook und Twitter gebündelt werden.

Schneller Zugriff mittels Geste
Wer sich wider Erwarten dennoch nicht zurechtfindet, kann Icons zum einen durch längeres Gedrückthalten der App verschieben oder mit einem Swipe vom oberen Rand des Touchscreens aus ein Suchfeld aus der oberen Menüleiste ziehen, um Inhalte gezielt aufzustöbern. Ein Swipe in entgegengesetzter Richtung, also vom unteren Rand nach oben, öffnet hingegen das sogenannte Quick-Menü, über das sich dann ohne großen Umweg Anrufe tätigen, Nachrichten verschicken sowie der Browser oder die Kamera öffnen lassen.

Um das N9 zu sperren, genügt hingegen ein Swipe vom Rand zur Mitte des Touchscreens, während zwei schnelle Tipper das Handy aus dem Stand-By-Modus holen. Wer übrigens selbst einmal seine Ruhe haben oder noch ein Weilchen länger im Bett liegen bleiben möchte, dreht das Nokia-Handy einfach auf den "Bauch": Eingehende Anrufe verstummen daraufhin ebenso wie der Wecker.

Flüssiges Zusammenspiel
Das alles funktioniert im Zusammenspiel mit der leistungsstarken Hardware absolut flüssig und reibungslos und wirkt zudem deutlich dynamischer und auch aufgeräumter als auf Nokias in die Jahre gekommener Symbian-Plattform. Die Verspieltheit und auch Funktionalität von Microsofts Windows Phone 7 erreicht MeeGo zwar nicht, zumindest ersteres dürften viele jedoch nicht unbedingt als Nachteil sehen.

App- und Support-Frage weitgehend ungeklärt
Zusammen mit MeeGo liefert Nokia seine kostenlose Navigationslösung Maps. Bereits vorinstalliert sind außerdem Apps für die wichtigsten Dienste, darunter Skype, Facebook oder Twitter. Weitere Qt-basierte Anwendungen können über Nokias Ovi-Store heruntergeladen werden, noch ist das Angebot jedoch überschaubar. Ein neues Entwicklertool schafft hier möglicherweise künftig Abhilfe, doch inwiefern die Plattform für App-Entwickler überhaupt attraktiv ist, bleibt abzuwarten.

Ebenso unklar ist derzeit, in welchem Umfang Nokia die Plattform auch langfristig unterstützen wird. Eigenen Angaben zufolge will der Hersteller bis mindestens 2015 technischen Support leisten. Ein erstes Update, das neben einigen Neuerungen auch mehrere Bugfixes beinhalten soll, wurde bereits angekündigt, auf Dauer dürfte das Augenmerk der Finnen jedoch auf Microsofts Windows Phone 7 liegen und MeeGo damit einer vom Aussterben bedrohten Plattform-Spezies angehören.

Angesichts eines unverbindlichen Richtpreises von rund 620 Euro für die 16-GB-Version bzw. 680 Euro für die 64-GB-Variante ist es daher fraglich, inwieweit sich hierzulande Käufer finden lassen. In Zeiten, in denen die Plattform samt der dazugehörigen Apps für viele Konsumenten wichtiger ist als die Hardware, auf der diese laufen, dürfte es für Nokia jedenfalls schwer werden, Kunden zum Kauf des N9 zu bewegen.

Fazit: Es sieht gut aus, hat sämtliche technischen Spielereien, die man sich von einem Handy derzeit wünschen kann, und lässt sich intuitiv bedienen. Die neue Plattform MeeGo läuft überdies flüssig und ist klar strukturiert, ohne dabei altbacken zu wirken. Großer Erfolg dürfte Nokias N9 dennoch nicht beschieden sein: Zu groß ist aus heutiger Sicht die Unsicherheit, was aus MeeGo in Zukunft wird - wer investiert schließlich schon gerne in ein Stück tote Technik? Vielleicht haben jedoch Sammler Interesse an dem Nokia-Smartphone. In ein paar Jahren könnte es immerhin eine echte Rarität sein.

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