Social Web in Nahost

Im Netz der Schande: Wo Selfies den Tod bedeuten

Web
29.10.2016 09:00

Rache-Pornos sind auch in Österreich eine Gefahr für Frauen. Doch sie sind nicht auf Industriestaaten beschränkt: In religiös geprägten Gesellschaften des Nahen Ostens nimmt die Erpressung junger Frauen mit Fotos in sozialen Medien ebenfalls zu. Und hier geht es um mehr als Rache: Es geht um zweifelhafte Ehrvorstellungen. Um Vergewaltiger, die ihre Opfer filmen, um sie zum Schweigen zwingen. Und um Frauen, die sich der Unterdrückung widersetzen und ihren Mut mit dem Leben bezahlen.

Ghadeer Ahmed war 18 Jahre alt, als sie ihrem Freund 2009 ein Video schickte, das sie unverschleiert beim Tanzen zeigte. Kein klassischer Racheporno, in traditionalistischen Gesellschaften des Nahen Ostens und Südasiens aber eine Szene, die nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt ist. Solange die Beziehung hielt, gelangte das Video auch nicht an die Öffentlichkeit.

Doch als sie endete, stellte Ahmeds Ex-Freund das Video einem Bericht der britischen BBC zufolge ins Netz - und setzte sie damit dem Zorn der religiös geprägten Gesellschaft aus. Obwohl sich Ahmed erfolgreich juristisch gegen ihren Exfreund zur Wehr setzte, wurde sie zum Ziel massiver Beschimpfungen und Drohungen - vielfach von Wildfremden.

"In unserer Gesellschaft kann es zum Tod führen"
"Im Westen mag ein Nacktfoto ein Mädchen verletzen. Aber in unserer Gesellschaft kann es zu ihrem Tod führen. Und selbst, wenn ihr Leben nicht physisch beendet wird, endet es doch sozial und professionell", erzählt Inam Al Asha, eine jordanische Psychologin und Frauenrechtlerin. Am Ende wende sich oft das gesamte soziale Umfeld von den Opfern ab. Die Folgen: Vereinsamung, Depressionen - und am Ende womöglich der Selbstmord.

Dabei geht es mitnichten immer um Erpressung mit Nacktbildern, allzu oft reicht ein im Privaten ohne Kopftuch aufgenommenes Foto, damit es einer jungen Frau im Nahen Osten ergeht wie Ahmed - oder schlimmer.

"Ich denke, dass mehr als ein Mädchen wegen solcher Angelegenheiten umgebracht wurde", sagt die jordanische Anwältin Zahra Sharabati. Sie habe in den letzten Jahren zumindest 50 Fälle von Foto-Erpressung im Social Web bearbeitet und glaubt, die Zahl der Betroffenen gehe allein im relativ liberalen Jordanien in die Tausenden, im ganzen Nahen Osten und einigen Ländern Südasiens dürften Zehntausende Frauen betroffen sein.

"Wenn das öffentlich wird, bin ich in echter Gefahr"
Abdul Latif Al Sheikh, der ehemalige Polizeichef von Saudi-Arabien, erzählte bereits vor zwei Jahren: "Wir erhalten täglich Hunderte Anrufe von Frauen, die erpresst werden."

Kamal Mahmoud, der Betreiber einer Selbsthilfe-Website für betroffene Frauen, pflichtet ihm bei: "In den Golfstaaten findet diese Erpressung im großen Stil statt. Besonders Mädchen in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait, Katar und Bahrain erzählen uns: 'Wenn diese Fotos öffentlich werden, bin ich in echter Gefahr.'"

Dass sich viele Frauen nicht der Polizei, sondern Selbsthilfe-Plattformen anvertrauen, hat einen Grund: In vielen Ländern des Nahen Ostens sollen just jene Organisationen Online-Erpressung verfolgen, die gleichzeitig die Unterdrückung der Frauen aufrechterhalten.

In Saudi-Arabien beispielsweise müssen Frauen, die sich nicht der traditionellen Kleiderordnung unterwerfen, mit schmerzhaften Strafen durch die Polizei rechnen. Gleichzeitig soll aber die Polizei den Frauen helfen, wenn sie Opfer von Erpressern werden.

Vergewaltigt: Videos treiben Opfer in den Suizid
Was passiert, wenn eine Betroffene von der Obrigkeit keine Hilfe erhält, zeigt der Fall einer 40-jährigen Frau aus Pakistan. Es ist eine Geschichte des Grauens: Erst wurde sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung, die von den Tätern mit dem Smartphone gefilmt wurde. Anschließend zirkulierte das Video via WhatsApp im Heimatdorf des Opfers.

In ihrer Verzweiflung wandte sich die Frau an die Dorfältesten. Doch sie waren ihr keine Hilfe. Sie erklärten, das Opfer sei durch die Tat besudelt und selbst dafür verantwortlich. Die Frau sah keinen Ausweg mehr. Sie nahm sich das Leben.

Einen ähnlichen Fall gab es im Juli in Marokko: Eine 16-Jährige wurde Opfer einer Gruppenvergewaltigung und anschließend mit den Aufnahmen der Tat erpresst. Die Täter erpressten sogar die Familie, die Aufnahme zu veröffentlichen, sollte diese sich an die Polizei wenden. Am Ende sah auch die 16-Jährige keinen anderen Ausweg mehr: Sie zündete sich an, erlag wenig später ihren Verbrennungen.

Geschäfte handeln mit Vergewaltigungs-Videos
Doch Vergewaltigungs-Videos dienen nicht nur der Erpressung der Opfer. Unter den Tätern blüht auch der Handel damit. In der indischen Provinz Uttar Pradesh werden sie in Geschäften angeboten, als wären sie völlig normal. Die BBC zitiert einen Händler: "Pornos waren gestern. Diese echten Verbrechen sind jetzt der Wahnsinn." Ein anderer Händler soll Kunden sogar zugerufen haben, dass sie das Mädchen im "neuesten heißen" Video vielleicht kennen.

Was aber tun Frauen in Gesellschaften, in denen Vergewaltiger ohne Unrechtsbewusstsein mit ihren Taten prahlen, ihre Opfer erpressen und gar noch mit ihren abscheulichen Videos handeln?

Sie haben im Grunde zwei Möglichkeiten, sich zu wehren: Mit Worten oder mit Gewalt. Was es zur Folge hat, sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen, zeigt der Fall einer jungen Tunesierin, die von einem Freund des eigenen Vaters erpresst und missbraucht wurde. Erst als der Täter ihr drohte, ihre Schwester zu töten, reagierte sie, lud ihn in ihr Haus ein - und erschlug ihn mit einem Fleischerbeil. Die Frau verbüßt nun eine 25-jährige Haftstrafe.

Wer sich wehrt, riskiert sein Leben
Die Alternative: Sich aktiv am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen und versuchen, die Gesellschaft mit Argumenten zu verändern. Diesen Weg wählte die eingangs erwähnte Ghadeer Ahmed. Sie ging auf Facebook zum digitalen Gegenangriff über, erklärte: "Gestern wollte mich eine Gruppe Männer demütigen, indem sie ein Privatvideo von mir geteilt hat, in dem ich mit Freunden getanzt habe. Ich schreibe dies, um bekannt zu geben: Ja, das war ich im Video. Und nein, ich schäme mich nicht für meinen Körper."

Damit stellte Ahmed allein den Gedanken in Frage, ihr Tanzvideo sei ein Grund, sich zu schämen - und entzog möglicherweise zumindest ein paar wenigen Männern die Grundlage für ihre Anfeindungen.

Doch sich so offen gegen die religiösen Konventionen des Nahen Ostens zu stellen, erfordert Mut. Mut, den auch die aus Pakistan stammende Qandeel Baloch aufbrachte, als sie sich in - für ihren Kulturkreis - aufreizenden Posten auf Facebook zeigte. Sie wollte provozieren, soziale Normen brechen und Pakistan so zu einer liberaleren Gesellschaft machen. Doch Baloch bezahlte ihren Einsatz - krone.at berichtete - mit ihrem Leben. Erwürgt vom eigenen Bruder. Ein "Ehrenmord".

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