100 Jahre Missbrauch

“Perversen-Kartei” der US-Pfadfinder veröffentlicht

Ausland
19.10.2012 10:53
Eine 14.500 Seiten starke "Perversen-Kartei", die am Donnerstag im Internet veröffentlicht wurde, prangert einen 100-jährigen Missbrauchsskandal bei den US-Pfadfindern an. Das Konvolut aus internen Akten über "unzulässige freiwillige Helfer" der Pfadfinder dokumentiert Hunderte Fälle sexuellen Missbrauchs und ein über Jahrzehnte etabliertes System der Vertuschung inner- und außerhalb des Jugendverbandes.

Der profilierte Anwalt und Anti-Kindesmissbrauchs-Aktivist Kelly Clark hatte 2010 einen bis dahin beispiellosen Prozess gegen die "Boy Scouts of America" geführt. Für seinen Mandanten, der als Jugendlicher von seinem Pfadfinder-Betreuer sexuell missbraucht wurde, erstritt Clark mit 18,5 Millionen Dollar die höchste Entschädigungssumme, die die "Boy Scouts" je zahlen mussten. Clark vertritt derzeit über 100 erwachsene Männer, die einst den Pfadfindern angehörten und ihren Betreuern Missbrauch vorwerfen.

Im Zuge des ersten Verfahrens erhielt Clark Zugriff auf Teile der internen "Pervesen-Kartei" der "Boy Scouts". Die Datenbank, in der wegen Missbrauchsvorfällen oder einschlägigen Verurteilungen "unzulässig" gewordene Helfer gelistet werden, wurde laut Clark wenige Jahre nach der Gründung der US-Pfadfinder 1910 angelegt und besteht damit seit fast 100 Jahren. Geführt und aufbewahrt wird sie in Aktenschränken und auf Computern im "Boy Scouts"-Hauptquartier im US-Bundesstaat Texas.

1.247 Täter bzw. Verdächtige in 20 Jahren
Die veröffentlichten Dokumente behandeln insgesamt 1.247 Täter bzw. des sexuellen Missbrauchs Verdächtige in den US-weit 304 Pfadfinder-Verbänden aus den Jahren 1965 bis 1985. Clark durfte sie am Donnerstag nach einem zweijährigen Rechtsstreit mit den Pfadfindern auf seiner Website veröffentlichen. Die Namen der Opfer und Zeugen wurden unkenntlich gemacht.

Clark wirft den Pfadfindern vor, was er schon bei seinem aufsehenerregenden Prozess 2010 glaubhaft argumentieren konnte: Nämlich, dass die Organisation von den Übergriffen weiß, aber systematisch die Täter deckt bzw. verhindert, dass die Fälle bekannt werden. So war der Mann, der seinen Mandanten im Alter von elf Jahren missbrauchte, danach zwar als Gruppenbetreuer abgesetzt worden, durfte jedoch als freiwilliger Helfer bleiben. Jahre später wurde er dann als Vergewaltiger verurteilt.

Laut US-Medien wurden nach dem Clark-Urteil 2010 Dutzende ähnlicher Fälle mit außergerichtlichen Vergleichen "gelöst". Die Täter werden dabei meist nicht belangt, die Pfadfinder müssen sich keine unangenehmen Fragen von Anwälten gefallen lassen.

Vergewaltiger für die "Ehre der Pfadfinder" gedeckt
In den 14.500 Seiten der "Perversen-Kartei" wiederholt sich dieser Modus Operandi Hunderte Male. So wurde etwa ein Betreuer in Kansas, der von Eltern in den Siebzigern mehrmals der sexuellen Belästigung von Kindern bezichtigt wurde, wieder aus der Kartei genommen, weil er ein Attest eines Pastors vorlegte, das ihn als "geheilt" bezeichnete. 1982 machte er sich jedoch bei einem Zeltlager über einen Buben her. Der Mann gestand die Tat, trat von seinem Posten zurück - und wanderte sang- und klanglos wieder in die "Perversen-Kartei". Der zuständige Verbandsleiter hatte sich mit den Eltern darauf geeinigt, die Sache nicht zur Polizei zu bringen, da der Betreuer ja versprach, sich in Behandlung zu begeben.

In einigen Fällen bekommen die Pfadfinder auch Hilfe von außerhalb. 1965 ließ ein Sheriff in Louisana einen geständigen Vergewaltiger von drei Brüdern straffrei laufen, weil er den Ruf der Pfadfinder nicht ruinieren wollte. Eine weitere Aktennotiz erklärt, wie ein Untersuchungsrichter, der im Vorstand eines "Boy Scout"-Verbandes saß, zu Hilfe eilte: "Der Fall und die Scouts wurden nicht angeklagt, um die Ehre der Pfadfinder zu retten." Die Männer hatten zwei Teenager und einen Elfjährigen sexuell missbraucht. Auch in Fällen, bei denen die Täter verurteilt wurden, haben Richter, Staatsanwälte und Polizisten fein säuberlich die "Boy Scouts" herausgehalten.

"Boy Scouts" sollen komplette "Perversen-Kartei" öffnen
Clark forderte die Pfadfinder am Donnerstag auf, auch den Rest ihrer "Perversen-Kartei" zu veröffentlichen. Die Amerikaner sollten selbst beurteilen, ob sie ihre Kinder den "Boy Scouts" anvertrauen wollen. Clark fordert auch eine Überprüfung des gesamten Pfadfinder-Verbands durch den US-Kongress im Hinblick auf dessen Missbrauchs-Präventionsarbeit und Tauglichkeit als nationaler Jugendbetreuungsinstanz, die von sich selbst behauptet, Kinder wären bei den "Boy Scouts" sicherer als zu Hause.

In Texas hat der Anwalt Anfang Oktober vor Gericht die Freigabe der Datensätze von 1985 bis 2011 erreicht, die "Boy Scouts" haben dagegen jedoch berufen. Offiziell heißt es, man wolle die Opfer schützen. Denn selbst durch die Unkenntlichmachung von Namen könne nicht gewährleistet werden, dass die Anonymität der Geschädigten erhalten bleibe. Am Donnerstag entschuldigte sich der Präsident der Pfadfinder im Namen seiner Organisation bei den Opfern und deren Familien. Er wies jedoch auch darauf hin, dass man bereits vor Wochen eine Prüfung der "Unzulässige Helfer"-Kartei ab 1965 veranlasst habe. Auch werde seit 2011 allen Helfern vorgeschrieben, jeden Missbrauchsverdacht umgehend der Polizei zu melden – dabei handelt es sich allerdings um eine Bürgerpflicht, deren Unterlassung in allen US-Bundesstaaten strafbar ist.

Pfadfinder wollen kein Schicksal wie Kirche erleiden
Inoffiziell wollen die Pfadfinder jedoch verhindern, dass sie eine Missbrauchsdebatte ähnlich der katholischen Kirche führen müssen. Die örtlichen Pfadfindergruppen in den USA sind oft eng mit den lokalen Pfarren verbunden. Ein Mitglied der "Boy Scouts of America" muss gläubig sein. Atheisten und Agnostiker werden laut Statut nicht aufgenommen, ebensowenig offen Homosexuelle.

Dem Autor Patrick Boyle zufolge, der sich in einem Buch den Missbrauchsvorwürfen bei den "Boy Scouts" widmete, werden jährlich rund 200 Fälle intern gemeldet. Mehr als 80% der Vorwürfe würden nie untersucht bzw. an die Polizei weitergeleitet.

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