Bericht zu Todes-Lkw

“NYT”: Viele Opfer waren “gebildet und wohlhabend”

Ausland
21.10.2015 06:21
Das aktuelle Titelfoto der "New York Times" macht betroffen: Es zeigt einen im Regen stehenden Buben, der die Bestattung mehrerer der insgesamt 71 Opfer des Lkw-Dramas auf der A4 bei Parndorf verfolgt. Das renommierte Blatt enthüllte am Dienstag nach Recherchen in mehreren Ländern Details über jene Personen, die auf der österreichischen Autobahn ums Leben kamen. Nach Gesprächen mit zahlreichen Angehörigen legt der Bericht offen, wie selbst gebildete Menschen mit genügend Geld in den Taschen auf der Tausende Kilometer langen Flucht der Skrupellosigkeit der Schlepper zum Opfer fallen können.

Die Reporter des US-Blattes führten zahlreiche Interviews mit den Angehörigen der Opfer, und zwar in sechs Städten im Irak, im von Kurden dominierten Teil der Türkei und auch in Österreich. Fazit: Viele der in dem Lkw erstickten 71 Flüchtlinge seien gebildet und teils auch wohlhabend gewesen oder stammten zumindest aus wohlhabenden Familien. Sie seien am Beginn ihrer Flucht nach Europa "nicht hilflos oder naiv" gewesen, sagten Hinterbliebene gegenüber der Zeitung. Sie hätten demnach viel Geld für die Schleppung gezahlt, um das Risiko zu minimieren - und starben am Ende mit Geld in ihren Taschen.

So ergaben die Recherchen der "New York Times", dass mindestens 20 der 71 Todesopfer aus dem ölreichen Kurdistan im Nordirak stammten - aus "einer relativ stabilen und wohlhabenden Region, die Ziel für viele Arbeiter aus Indien, Pakistan und Afrika ist", ist in dem Bericht die Rede. Die Familien hätten den Schmugglern rund 4500 US-Dollar im Voraus bezahlt. Vier Freunde aus Sulaimaniyya, einer kurdischen Stadt im nordwestlichen Irak, hätten sogar rund 9500 US-Dollar für die sichere Reise nach Europa bezahlt. Diese Summe hatte auch der "Guardian" in einem Bericht über eines der Todesopfer aus Sulaimaniyya genannt.

Bruder von Opfer: "Haben kein Problem mit Geld"
Die Motive für die Flucht aus dem Nordirak waren, das räumen auch mehrere der befragten Angehörigen ein, jedenfalls nicht immer finanzieller Natur. "Wir haben kein Problem mit Geld", erklärte etwa der Bruder eines der Todesopfer. Ein anderer Mann aus Sulaimaniyya, der ebenfalls in dem Todes-Lkw ums Leben kam, hinterließ ein Haus, das ihm seine Eltern dem Bericht zufolge für rund 27.500 US-Dollar gekauft hatten. Einer der Toten wollte in Deutschland sein Studium abschließen, andere traten die Reise an, weil sie auf bessere medizinische Versorgung hofften. Gespräche mit Angehörigen von Opfern aus türkischen Kurdengebieten zeichneten ein ähnliches Bild.

Was die Opfer jedenfalls ihren Angehörigen zufolge gemeinsam hatten: Sie waren gebildet und sich der Risiken auf der Flucht nach Europa bewusst. So betonte dem Bericht zufolge die Mehrheit der Befragten vehement, ihre verstorbenen Angehörigen hätten mit Sicherheit gewusst, auf ihren Weg in den Westen auf keinen Fall in einen Lkw steigen zu dürfen. Was sie letztlich dann aber doch taten - und mit ihrem Leben bezahlen mussten.

Experte: "Sind eher bereit, das Risiko einzugehen"
"In einen schlecht belüfteten Lkw zu steigen, mag wie eine dumme Entscheidung wirken", erklärte der Sozialpsychologe Stephen D. Reicher von der St. Andrews Universität in Schottland gegenüber der "New York Times". Aber wenn sich ein Flüchtling seinem Ziel nähert, werde es zu einer Entscheidung, "zu scheitern - alle bisherigen Anstrengungen und Risiken vergeblich -, oder aber ein weiteres Risiko auf sich zu nehmen und möglicherweise Erfolg zu haben", so Reicher. "Wir sind eher bereit, das Risiko einzugehen."

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