Bis zu 1.000 Tote?

Migranten brachten Boot zum Kippen, als Hilfe kam

Ausland
20.04.2015 06:16
Vor der Küste Libyens hat sich das bisher größte Flüchtlingsdrama im Mittelmeer ereignet: In der Nacht auf Sonntag ist ein Flüchtlingsboot gekentert, als sich die Flüchtlinge alle auf eine Seite drängten, weil ihnen ein Schiff zu Hilfe gekommen war. An Bord sollen nach Angaben des Flüchtlingshochkommissariats bis zu 1.000 Menschen gewesen sein. Nur rund 50 von ihnen konnten bisher gerettet werden. Das Entsetzen in ganz Europa ist groß.

Das Boot setzte laut dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR gegen Mitternacht einen Notruf ab. Die italienische Küstenwache wies daraufhin den portugiesischen Frachter "King Jacob" an, seine Route zu ändern. Bei der Ankunft am Unglücksort rund 60 Meilen nördlich der libyschen Küste und rund 120 Meilen südlich der italienischen Insel Lampedusa sichtete die Crew den sinkenden Trawler. Das eigentliche Drama ereignete sich aber offenbar erst, als sich die Flüchtlinge bei dem Eintreffen des Frachters alle auf eine Seite des kenternden Bootes drängten. Dadurch geriet das nur etwa 20 Meter lange Boot ins Schwanken und kippte schließlich.

Nur 28 der Menschen konnten sofort lebend geborgen werden, etwa noch einmal so viele in den ersten Stunden nach dem Eintreffen weiterer Helfer. Die Überlebenden wurden an Bord eines Schiffes der italienischen Marine genommen, das die sizilianische Stadt Catania ansteuert. Laut der UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami dürfte es keine weiteren Überlebenden geben.

"Schlepper haben Boot bis zum Unmöglichen gefüllt"
Die groß angelegte Rettungsaktion wird von der italienischen Marine koordiniert. 17 Schiffe, darunter zwei aus Malta, und Flugzeuge sowie Hubschrauber sind bei der Suche nach Überlebenden im Einsatz. Auch mehrere sizilianische Fischerboote eilten zum Unglücksort, um Hilfe zu leisten. Doch als die Retter am Unglücksort eintrafen, konnten sie kaum noch etwas tun. Bis Mittag wurden 24 Leichen geborgen, Hunderte Menschen werden vermisst. Das Wasser hat 16 Grad, die meisten der Flüchtlinge konnten wohl nicht schwimmen.

"Die Grausamkeit der Schleuser ist unglaublich, sie haben das Boot bis zum Unmöglichen gefüllt", so Sami. Es it allerdings unklar, wie viele Menschen sich tatsächlich an Bord des Flüchtlingsbootes befanden. Das UNHCR sprach von bis zu 1.000 Flüchtlingen, die an Bord gewesen seien. Sollten die Zahlen bestätigt werden, wäre es "das schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde", sagte Sami.

Ein Überlebender aus Bangladesch erzählte der Nachrichtenagentur Ansa: "Wir waren 950 Menschen an Bord, auch 40 bis 50 Kinder und etwa 200 Frauen." Viele Menschen seien im Laderaum eingeschlossen gewesen. "Die Schmuggler haben die Türen geschlossen und verhindert, dass sie herauskommen", erzählte der Mann, der in ein Krankenhaus in Sizilien gebracht wurde.

Fast 1.500 Tote allein in einer Woche
Damit wären alleine heuer fast 2.000 Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben. Allein in der vergangenen Woche seien fast 1.500 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen, so Sami im Interview mit der TV-Anstalt RAI, nachdem vor wenigen Tagen Überlebende von 400 vermissten Migranten berichtet hatten. Tausende Migranten fahren jede Woche von Afrika aus ab, fliehen vor Krieg, Konflikten, Verfolgung, Hunger und Verzweiflung. Immer wieder kommt es zu Unglücken.

Sami forderte die EU zu einem humanitären Korridor für Flüchtlinge auf, die nach Europa wollen: "Man muss verhindern, dass Migranten zu diesen gefährlichen Reisen gezwungen werden, bei denen Tausende Menschen ums Leben kommen."

"Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof geworden"
Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, rechnet mit weiteren Tragödien: "Wer vor einem brennenden Haus flüchten muss, tut alles, um sich zu retten. Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof geworden, und Italien ist sich selbst überlassen."

Das Stadtoberhaupt von Palermo, Leoluca Orlando, erklärte, dass die toten Flüchtlinge auf Brüssels Gewissen lasteten: "Die EU kann nicht mehr wegschauen." "Ganze Bevölkerungen" würden sich derzeit in Bewegung setzen. Die Einrichtung humanitärer Korridore sei notwendig, um weitere Flüchtlingsboote zu verhindern.

"Wie kann man bei so viel Leid gleichgültig bleiben?"
Der Papst drückte beim Angelus-Gebet am Sonntag seinen "tiefen Schmerz" aus. Franziskus rief die internationale Gemeinschaft zu entschlossenem Handeln auf, um weitere Flüchtlingstragödie zu verhindern: "Die Opfer sind Männer und Frauen wie wir, sie sind unsere Brüder, die ein besseres Leben, das Glück suchten." Bei den Flüchtlingen handle es sich um Menschen auf der Flucht vor Hunger, Krieg, Ausbeutung und Gewalt.

Auch der italienische Premier Matteo Renzi zeigte sich über das Unglück geschockt. "Täglich erleben wir ein Massaker im Mittelmeer. Wie kann man bei so viel Leid gleichgültig bleiben?", sagte der Regierungschef. Er führte ein telefonisches Gespräch mit Frankreichs Präsident Francois Hollande und berief noch für den Nachmittag ein Gipfeltreffen mit mehreren italienischen Ministern in Rom ein. Hollande seinerseits forderte mehr Überwachungsboote im Rahmen der EU-Mission "Triton".

EU beruft Krisensitzung ein
Die EU-Kommission äußerte sich am Sonntag in Brüssel "zutiefst betroffen" von dem Unglück und kündigte eine Dringlichkeitssitzung der Innen- und Außenminister der EU-Länder an. Dabei solle es vor allem darum gehen, mit den Herkunfts- und Transitländern daran zu arbeiten, die Flüchtlinge von der gefährlichen Reise über das Mittelmeer abzuhalten. Kritiker werfen der EU seit Langem Tatenlosigkeit angesichts des Massensterbens im Mittelmeer vor.

Zahl der Ertrunkenen hat sich seit Vorjahr verneunfacht
Nach Angaben des Innenministeriums in Rom sind seit Anfang dieses Jahres bereits 26.600 Migranten in Italien eingetroffen, 11.000 allein in der Vorwoche. Das entspricht der Behörde zufolge einem Plus von 30 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2014. Die Zahl der Ertrunkenen hat sich verneunfacht. Bis Jahresende rechnet die italienische Regierung mit insgesamt 200.000 Flüchtlingen. 2014 kamen rund 170.000 Migranten über Italien in die Europäische Union. Mehr als 3.000 verloren bei der Reise über das Mittelmeer ihr Leben.

Italien hatte im vergangenen Jahr seine groß angelegte Such- und Rettungsmission "Mare Nostrum" beendet. Diese war ins Leben gerufen worden, nachdem 2013 mehr als 360 Menschen vor der Küste Italiens ums Leben gekommen waren, als ihr Boot kenterte. "Mare Nostrum" wurde durch die "Triton" benannte Grenzkontrollmission der EU ersetzt. Im Gegensatz zu "Mare Nostrum" hat "Triton" aber keinen konkreten Such- und Rettungsauftrag. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und Politikern nimmt mit jedem Bootsunglück zu.

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