"Gerate in Rage"

Sexualtherapeut über heutige Sex-Kultur entsetzt

Ausland
25.05.2015 14:23
Volkmar Sigusch gilt als einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler der Welt. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" übte der 74-jährige Pionier der Sexualmedizin harte Kritik an "unserer misslungenen Sexualkultur", angesichts derer er "in Rage gerate". Und er beantwortete die Fragen, wieso Prostituierte so wichtig sind und warum viele normale Männer sexuell auf Kinder reagieren würden.

Dass Jugendliche heute mit sexualisierter Werbung und öffentlicher Pornografie aufwachsen, habe natürlich Auswirkungen. Während vor 50 Jahren noch eine Andeutung oder ein Wort wie Schenkel in einem Roman genügt habe, um junge Menschen zu erregen, würden die immer obszöneren Gesten der Popkultur immer mehr zu einer erotischen Verarmung führen, so Sigusch. Es gebe sogar schon - besonders in den USA - Teenager, die sich bewusst davon abwenden, und vor allem Jugendliche muslimischer Herkunft würden "unsere Sexualkultur als Teufelszeug erleben".

"Haben es nur zu Kulturbeutel-Kultur gebracht"
"Es ist eine Tatsache, dass wir es im Westen nicht geschafft haben, eine Art erotica (Kunst der Erotik, Anm.) zu entwickeln, wie es sie ansatzweise in Asien gibt. Wir haben es nur zu einer Kulturbeutel-Kultur gebracht", bekrittelt der einstige Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Das Elend sei schon an der Sprache ablesbar: "Schwanz, Scheide, Brustwarze, Hodensack, verkehren, poppen. Das ist doch grauenhaft", so der knapp 75-jährige Wissenschaftler im Interview. Das größte Problem sei allerdings, dass die Menschen nicht miteinander reden würden, dass sie nicht sagen würden, was sie möchten, was sie erregt oder was sie nicht mögen.

Eine Art goldenes Zeitalter der Sexualität gebe es nicht, denn neue Freiheiten hätten nicht automatisch zu einem sexuell erfüllte(re)n Leben geführt, sondern stets auch neue Zwänge mit sich gebracht. Es habe zwar Phasen des Umbruchs gegeben, wie etwa die späten 60er-Jahre, doch auch heute würden sich 95 Prozent der Sexualakte in festen Beziehungen abspielen. Die Singles, die rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, würden aber "nur fünf Prozent der Sexualakte abbekommen", so der Frankfurter Wissenschaftler.

"Ohne Prostitution gäbe es Mord und Totschlag"
Das sei auch der Grund, warum sich Sigusch unsere Gesellschaft ohne Prostitution nicht vorstellen kann. Ohne sie gäbe es Mord und Totschlag - und zwar aus Triebgründen. "Je aggressiver öffentliche Personen gegen Prostituierte auftreten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie deren Dienste in Anspruch genommen haben", das habe ihm seine jahrelange Erfahrung gezeigt, so der renommierte Sexualtherapeut.

Zum Thema Pädophilie erläuterte Sigusch in dem Interview, dass Studien gezeigt hätten, dass viele normale Männer sexuell auf Kinder reagieren würden, was aber nicht bedeute, dass alle Männer potenzielle Missbrauchstäter seien. Denn: Bei den meisten würde ihr mitfühlender Charakter dagegensprechen, "einer willkürlichen und unheimlichen sexuellen Erregung zu folgen". "Pädophilie ist auch deshalb so ein Tabu, weil viele Männer ahnen, wie erotisch der Umgang mit einem Kind sein könnte", so der Wissenschaftler. Es gebe pädophil veranlagte Männer, die es ihr Leben lang schaffen, diesem Wunsch zu widerstehen, weil sie moralisch gefestigt seien. "Wichtig ist dabei oft, dass sie eine Partnerin oder einen Partner haben, die oder der zu ihnen hält - und zwar in Kenntnis ihres Begehrens", weiß Sigusch.

Das sexuelle Elend wird im Kern bleiben
Angesprochen auf den großen Erfolg des Romans "Fifty Shades of Grey" meinte Sigusch, man wisse schon seit vielen Jahren, dass viele Frauen durch sadomasochistische Fantasien sexuell erregt werden - "wohlgemerkt Fantasien, nicht eine handfeste Praxis, die von denselben Frauen meistens abgelehnt wird", so der Sexualforscher, der in seinem aktuellen Buch "Sexualitäten - Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten" prognostiziert, das sexuelle Elend werde im Kern bleiben, wie es ist: "Aufgepeitschte Nerven, enttäuschte Liebe, unendliche Einsamkeit." Trotzdem glaubt er an die Liebe. Diese sei eine einzige Kostbarkeit, "nicht zuletzt, weil sie selbst in unserer Kultur weder produziert noch gekauft werden kann".

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