"Krone"-Interview

Kampusch: “Im Grunde bin ich eine Einzelgängerin”

Österreich
17.02.2013 19:17
Am Sonntag – acht Tage vor der Weltpremiere des Filmes über ihre Entführung – feierte Natascha Kampusch ihren 25. Geburtstag. Im Interview mit Conny Bischofberger spricht sie über ihre Jahre in Freiheit und ein durch acht Jahre Gefangenschaft ruiniertes Zeitgefühl.

Der erste Eindruck: Hübsch ist sie. Das Haar trägt sie jetzt noch länger, gezähmt von einer blauen Blumenspange. "Die hatte ich schon, als ich sieben war", erzählt Natascha Kampusch, als wir uns im Büro ihrer Pressebetreuer am Wiener Stubenring zum Interview treffen. Die Haarspange ist zu einem Symbol für das Leben DAVOR geworden. "Als ich fast zehn Jahre später in mein Kinderzimmer kam, lag sie immer noch am selben Platz."

Der Kinofilm "3096 Tage" – so lange lebte Natascha Kampusch in der Gewalt ihres Entführers – trägt den Untertitel "Nur einer von uns konnte überleben" (Weltpremiere am Montag in einer Woche in Wien). Diese eine war sie.

Die Schokomousse-Torte, die wir als Geburtstagsgeschenk mitgebracht haben, wird von ihr inspiziert und kommentiert. So wie manche Fragen, die sie zunächst einmal hinterfragt. Währenddessen trocknet sie, als ob sie ein Orchester dirigieren würde, mit weichen Handbewegungen den kornblumenblauen Nagellack. Alles ist farblich aufeinander abgestimmt. Nur die Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken stört manchmal die sorgsam inszenierte Harmonie.

Hier gibt's sechs Audio-Ausschnitte vom Interview mit Natascha Kampusch: Clip 1 (über ihre Jahre in Freiheit), Clip 2 (über Freunde und Familie), Clip 3 (über Haustiere), Clip 4 (über ihre Zukunft), Clip 5 (über ihren Schritt an die Öffentlichkeit) und Clip 6 (über den Papst-Rücktritt).

"Krone": Frau Kampusch, die arme Torte hat Ihrem Urteil nicht standgehalten. Auch der Nagellack deutet auf Perfektionismus hin. Würden Sie sagen, dass Sie ein Kontrollfreak sind?
Natascha Kampusch: Ich würde es anders benennen. Ich bin eine Ästhetin. Diese genauen ästhetischen Vorstellungen schwirren alle in meinem Kopf herum, und deshalb wäre ich wahrscheinlich eine gute Innenarchitektin.

"Krone": Waren Sie schon vor Ihrer Entführung so detailverliebt?
Kampusch:
Dieses Perfektionistische hatte ich immer schon. Als Kind hat mich das oft frustriert, denn ich konnte es nicht ausleben. Heute kann ich das.

"Krone": Sie werden am Sonntag 25 Jahre alt. Wo und wie werden Sie feiern?
Kampusch: Gar nicht, weil ich nach Berlin fliege und am Abend bei Günther Jauch bin. Es wird eine Nachgeburtstagsfeier geben, in einer gemütlichen, privaten Runde.

"Krone": Werden Ihre Eltern dabei sein?
Kampusch: Eventuell. Ich lasse mich überraschen. Sie wissen ja, dass man durch die Genetik einen sehr engen Kontakt zu seinen Eltern hat, der nie abbrechen wird. Ob man sich dann mit diesen Menschen weiter trifft oder auseinandersetzt, ist eine andere Frage.

"Krone": Wie waren die Geburtstage in Ihrer Kindheit?
Kampusch: Ich habe sie immer großartig zelebriert. Es gab Krapfen von meinem Vater mit ganz viel buntem essbarem Konfetti drauf. Manchmal auch ein Clowngesicht aus Mandelcreme. Und Luftschlangen, weil ja Fasching war. Heute ist es einfach nur schlimm, dass man alt wird.

"Krone": Alt?
Kampusch: Mit 25, da beginnt die Uhr schon langsam zu ticken. Das erste Vierteljahrhundert. Ich versuche, mich wie 25 zu fühlen, aber es ist schwierig.

"Krone": Hat die Gefangenschaft Ihr Zeitgefühl ruiniert?
Kampusch: Ich hatte einerseits das Gefühl, das sei eine sehr kurze Zeitspanne gewesen. Manchmal kam mir die Gefangenschaft aber auch wie 1.000 Jahre vor.

"Krone": Wie ist es, wenn das eigene Drama plötzlich in einem Kinofilm an einem vorbeizieht?
Kampusch: Es ist nur ein Teil meines Lebens. Es behandelt nur einen Aspekt. Da das Leben auch privat dauernd an mir vorbeizieht, ist es also nicht besonders anders. Nur ganz interessant, das einmal von außen zu betrachten.

"Krone": Wie anstrengend ist so ein filmreifes Leben?
Kampusch: Ich habe immer Respekt vor Menschen, die in früheren Zeiten noch Holz hacken und ohne Zentralheizung leben mussten...

"Krone": Warum fallen Ihnen diese Menschen jetzt ein?
Kampusch: Weil es wirklich schwierigere Umstände gibt als meine.

"Krone": Also ist es gar nicht so anstrengend?
Kampusch: Es ist vielleicht sogar sehr anstrengend. Es war schon belastend, unter Dauerbeobachtung und Dauerkontrolle zu stehen von einer Person. Mittlerweile gibt es eine ganze Ellbogengesellschaft um mich herum, mit zum Teil brachialen Methoden. Das wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn ich nicht eingesperrt, diesem spezifischen Druck, dem Hass auf Frauen ausgesetzt gewesen wäre. Aber es ist auch eine interessante Erfahrung, und ich bin dadurch gewachsen.

"Krone": Bald leben Sie die gleiche Zeit, die Sie in Gefangenschaft verbracht haben, in Freiheit. Fühlen Sie sich frei?
Kampusch: Nein, ich fühle mich momentan nicht frei. Einfach, weil es noch nicht ganz klar ist, wohin das alles gehen soll.

"Krone": Zukunftsängste?
Kampusch: Das ist vielleicht zu viel gesagt. Aber ich fühle mich wie in einem total warmen, dicken, allerdings unangenehm kratzenden Pullover.

"Krone": Was kratzt?
Kampusch: Die vielen Reize von außen. Ich bin reizüberflutet. Im Moment stelle ich mir gerade vor, wie es sein wird, wenn alle draußen sind und ich mir das größte Stück dieser Torte runterschneide und esse. Aber auch, wie viele Monate ich das dann wieder in Form von Pölsterchen herumtragen muss.

"Krone": Wie verbringen Sie jetzt Ihre Tage?
Kampusch: Vielleicht sollte ich eher Wochen schildern. Ich bemühe mich, Einkäufe zu tätigen. Ich bereite mich auf diese Einkäufe vor, gleiche alles mit meinem Budget ab. Dazwischen gibt es Besprechungen hier im Büro. Zweimal pro Woche suche ich meine Therapeutin auf und bespreche mit ihr, was mich momentan belastet. Entschuldigung, mein Deutsch ist nicht mehr so gut wie früher...

"Krone": Priklopil ließ Sie im Verlies Ö1 hören, und so soll sich Ihr gepflegtes Deutsch gebildet haben. Vernachlässigen Sie das inzwischen?
Kampusch: Es liegt nicht nur daran. Ich habe nachgelassen, weil ich mich an die Leute angepasst habe.

"Krone": Züchten Sie noch immer Kakteen?
Kampusch: Ja. Und ich stricke und ich häkle.

"Krone": Beruhigt Stricken?
Kampusch: Manchmal macht es mich auch wütend. Man merkt sofort, ob man in Strickstimmung ist. Wenn die Maschen fließen, nicht zu locker und nicht zu fest, dann ist man glücklich. Sobald man anfängt zu krampfen, sollte man aufhören (denkt kurz nach). Ich habe jetzt auch Fische.

"Krone": Stumme Freunde ohne Widerspruch.
Kampusch: Ja, und ich will sogar noch weitere Aquarien kaufen. Weil Katzen momentan nicht in mein Leben passen. Deshalb hab' ich mir vermehrungsfreundliche, besonders zutrauliche, doofe Guppys zugelegt. Und Salmler. Die sind viel intelligenter als die Guppys. Mit denen kann man fast Dialoge führen.

"Krone": Kampusch: Das ist es, was mir Schwierigkeiten bereitet. Ich weiß es nicht. Vielleicht würde ich dem Fremden, der mich überhaupt nicht kennt, antworten, dass ich Botschafterin sei.

"Krone": In welcher Mission?
Kampusch: Vielleicht Botschafterin des Überlebens.

"Krone": Ein Phänomen an Ihrer Geschichte ist ja, dass Priklopil es trotz Gewalt und Isolation nicht geschafft hat, Sie als Mensch zu brechen. Sie sind als Stärkere aus dieser Beziehung hervorgegangen. Gibt es Momente, in denen Sie darauf stolz sein können?
Kampusch: Ja... Stolz aber eher im Sinn von erleichtert und zufrieden, das alles ausgehalten zu haben.

"Krone": Sie haben einmal erzählt, dass Ihnen dabei Vorsätze geholfen haben, die Sie auf kleine Zettel notiert haben. Machen Sie das immer noch?
Kampusch: Ja, aber vor einem Monat habe ich mich dabei ertappt, diese Vorsätze, weil es schon so viele Zettel gab, auf Papierservietten zu schreiben. Mit einem speziellen Kugelschreiber. Stichwortartig, wie Kürzel. Früher war es immer ein langes Lamento, heute reicht mir die Quintessenz. Diese Servietten lege ich dann an Orte, von denen ich weiß, ich komme demnächst wieder daran vorbei – und dann erinnere ich mich.

"Krone": Was haben Sie zuletzt notiert?
Kampusch: Einen Buchtipp. Die Biographie der Puppenmacherin Käthe Kruse. Obwohl der viel ältere Mann sie sabotiert hat, baute sie ein Imperium auf und verleugnete niemals ihren Charakter und ihre Gefühle. Das kann Vorbildwirkung haben.

"Krone": Wollen Sie noch immer studieren?
Kampusch: Das ist mein fixer Plan. Im Moment tendiere ich Richtung Psychologie. Aber ich habe nach dem Hauptschulabschluss eine Pause eingelegt, weil das Gehirn bei psychischer Belastung nicht aufnahmefähig ist. Das ist, wie wenn Sie in ein Gefäß Wasser schütten, das lauter Löcher hat. Es rinnt alles wieder raus.

"Krone": Ihre Vision zum 50. Geburtstag?
Kampusch: Ich hoffe, dass ich dann noch gesund bin und viele interessante Dinge erlebt haben werde. Ich sehe mich in einem Haus, das ich mir selbst gebaut habe, in dem ich gleichzeitig leben und arbeiten kann. Vielleicht sogar in Kampanien, wo sich die Menschen anstellen für den frischen Büffelmozzarella.

"Krone": Kommen in dieser Landschaft Kinder vor und vielleicht ein Ehemann?
Kampusch: Grusel! Ich meine, ich will es nicht verschreien. Kinder gehen ja noch. Aber es muss nicht zwingend ein Ehemann dabei sein. Ich sehe mich aber auch nicht als Klosterschwester verbittert in einer Zelle mit einem Kreuz überm Bett. Ich versuche, Nähe zuzulassen. Im Grunde bin ich eine Einzelgängerin, die es nicht so toll findet, eingeengt zu werden.

"Krone": Stimmt es, dass Sie auf Facebook waren und wieder ausgestiegen sind?
Kampusch: Ja. Ich fand das wirklich seltsam. Auf einmal sollte ich Leute als Freunde bezeichnen, die ich im realen Leben nie als solche empfinden würde. Ich hab 1.300 solche Freunde abgelehnt. Und dann eingesehen, dass das eine künstliche Welt ist, in der ich nicht zuhause sein möchte.

"Krone": Vergangenen Montag ist der Papst zurückgetreten. Was hat diese Nachricht in Ihnen ausgelöst?
Kampusch: Ich fühlte mich bestätigt. Denn ich dachte mir schon vor sechs Jahren: Wie wird das sein mit diesem Papst? Wird er vergiftet werden oder doch an Altersschwäche sterben? Ich habe ihm sogar zugetraut, dass er sich noch aus dem Schlamassel befreit und sich zurückzieht. Nun hatte er tatsächlich den Mut dazu. Wer weiß, vielleicht habe ich auch eines Tages die Kraft zu diesem ungewöhnlichen Schritt.

Ihre Geschichte
Am 2. März 1998 wird Natascha Kampusch, damals zehn Jahre alt, auf ihrem Schulweg in Wien von Wolfgang Priklopil entführt. Achteinhalb Jahre wird sie in einem Keller in Strasshof (NÖ) gefangen gehalten, bevor sie als 18-Jährige am 23. August 2006 flüchten kann (Priklopil begeht Selbstmord). Ihr Verschwinden zählt zu den spektakulärsten Fällen der Kriminalgeschichte. Bis heute sind Gerüchte, wonach Priklopil kein Einzeltäter gewesen sein soll, nicht verstummt – die neuerlichen Ermittlungen des FBI deuten aber nicht darauf hin. 2010 veröffentlicht Natascha Kampusch ihre Biographie "3096 Tage". Am 25. Februar 2013 feiert der gleichnamige Kinofilm – in Anwesenheit der Protagonistin – in Wien Weltpremiere. In Sri Lanka unterstützt Kampusch das Don-Bosco-Hilfsprojekt für ehemalige Kindersoldaten in Vavunya.

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