Die Muscle Shoals Sound Studios gibt es in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr. Die Stadt im Nordosten Alabamas bleibt aber „Tatort“, Betty LaVette zog für „The Scene Of The Crime“ einfach ein paar Türen nebenan mit zahlreichen Sessionmusikern, die in den Sechzigern und Siebzigern den Sound einer ganzen Generation prägten, und der etwas jüngeren Band „The Drive-By Truckers“ in die ebenso legendären wie von Modernisierung unberührten FAME-Studios ein und nahm dort
einen Knüller nach dem anderen auf.
Im Gegensatz zu heutigen Soul-Legenden à la Aretha Franklin, die in Muscle Shoals zur selben Zeit ihre Platten aufnahm, als Bettye LaVette zu ihrer dreitägigen Session eintraf, hat die heute 61-Jährige die letzten Jahre weder im Reichtum noch auf Partys verbracht. Bis 1999 schlug sie sich mit Engagements in Hotelbars und an Theatern durch. In den Achtzigern durfte sie eine Platte für Motown Records aufnahmen, wo man gerade etwas Budget übrig hatte, weil Diana Ross das Label verlassen hatte. Die „Karriere“ verlief Mangels Förderung und Engagement der Plattenfirma im Sand. Als zu masseninkompatibel bezeichneten die Manager Bettyes Stil, der neben Soul und Blues auch Rock’n’Roll und Country nicht zu kurz kommen lässt.
Um die Jahrtausendwende fielen die Originalbänder von „Child Of The Seventies“ einem französischen Sammler in die Hände. Das Album wurde unter dem Namen „Souvenirs“ 28 Jahre nach seiner Entstehung herausgebracht und Betty mit 54 zur „Newcomerin“. 2005 wechselte sie zum Plattenlabel „ANTI“ – eine der letzten Schallplattenbastionen, wo das Wort eines Musikers noch zählt und die Manager etwas von Groove und kreativen Schaffensprozessen verstehen, weil sie selbst meist Produzenten sind – und ersang sich mit „I’ve Got My Own Hell To Raise“ breiten Respekt in den USA und auch in Europa.
„Ich schreibe keine Songs – ich interpretiere sie“, sagte Bettye LaVette zu Patterson Hood von den „The Drive-By Truckers“, der ihr Album zusammen mit dem Südstaaten-Musiker David Barbe co-produzierte und als Sohn des Sessionmusikers David Hood (Aretha Franklin, Wilson Pickett, Willie Nelson, The Staple Singers und seit neuestem: Bettye LaVette) den Sound von Muscle Shoals quasi mit dem Babybrei gelöffelt hat. Er füllte das Booklet von „The Scene Of The Crime“ mit fesselnden Anekdoten aus dem Studio und Bettye LaVettes Biographie. Einzig mit Hood schrieb die Sängerin einen Song: „Before The Money Came – The Battle Of Bettye LaVette“.
Man riecht förmlich den verschütteten Whiskey auf dem Teppichboden in den Recording-Rooms der FAME-Studios, schmeckt den Grind filterloser Camels, deren Qualm über die Jahrzehnte hinweg die großen Holzpaneele an der Wand und die Akustikdecke teerte – und wahrscheinlich einen Großteil zum Klang der Aufnahmeräume beitrug. Rasiermesserscharf durchschneidet Bettye LaVettes Stimme die erdigen Klänge des allgegenwärtigen Fender-Rhodes-Pianos, des dumpfen P-Bass’ und der mit viel Schmalz aus alten Verstärkern mit brandlöchriger Frontbespannung herausgepressten Gitarren-Grooves.
Auf „Jealousy“ geht sie im vier Quadratmeter kleinen Kämmerchen vor dem wuchtigen Gesangsmikrofon darnieder, holt mit überzeugend inszenierter Verzweiflung die in drei Jahrzehnten der Verkanntheit aufgestauten Emotionen heraus. „You Don’t Know Me At All“ schmettert sie gegen die Wände, denen sie schon längst das Zittern gelehrt hätte, wäre nebenan etwas weniger Platz im Tresor gewesen.
Willie Nelsons „Somebody Pick Up My Pieces“ verkörpert sie ebenso berührend wie Elton Johns (!) „Talking Old Soldiers“, bei denen sie sich vor Piano und Pedalsteel selbsttherapeutisch in Rage und aus der Depression singt. Schließlich gelangt man zu „Before The Money Came“, dem autobiografischen Song, den sie mit Patterson Hood schrieb. „All these years I kept my style / I didn’t cross over so it took me a while / before the money came“, knallt Bettye LaVette dem jenseits des Pensionierungsalters befindlichen Teil ihrer Studiomusiker vor den Latz. Alles ist gut, es hat lang gedauert, viele Tränen gekostet, Schweiß, Verbitterung – aber jetzt lodert das Feuer!
1972, als sie in der Vollblüte der Rhythm-and-Blues-Ära unter dem Vorwand ihre Platte sei zu altmodisch, in die Ablage gesteckt wurde, war Bettye LaVette ihrer Zeit ironischerweise eigentlich Jahrzehnte voraus. Die Musikindustrie war erst dreißig Jahre später für ihre unbändigen Leidenschaft zu Singen bereit. Dafür zahlt sie es ihr jetzt mit jeder einzelnen Note auf „The Scene Of The Crime“ heim.
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Christoph Andert
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