Zerrissene Stadt

Das Aleppo, das wir sonst nie zu sehen bekommen

Ausland
30.10.2016 11:06

Ganz Aleppo ist im Krieg? Während der Osten von Aufständischen beherrscht wird, geht im von der Regierung kontrollierten Westteil das Leben recht und schlecht weiter.

Aleppo ist anders. Eine Metropole seit 4000 Jahren und hat Dutzende Invasionen überstanden. Die hier ansässigen Dynastien von Händlern und Handwerkern sind ihrer Stadt tief verbunden. Mit einer Prise Snobismus blickt man als echter "Halabi", so lautet die arabische Bezeichnung für die Einwohner, auf die Menschen in den umliegenden Dörfern, denn das Stadt-Land-Gefälle in Syrien ist stark.

Geteiltes Aleppo
Die jüngste Zerstörung begann 2012, im zweiten Kriegsjahr. Der berühmte Basar und die als Weltkulturerbe theoretisch geschützten Stadtteile wurden im Zuge der Kämpfe zwischen den vielen Kriegsparteien dem Erdboden gleichgemacht. Seither ist die Stadt geteilt. Die westlichen Bezirke kontrolliert die syrische Armee, unterstützt von iranischen und libanesischen Kämpfern. Der Ostteil wird von diversen Aufständischen, darunter der Al-Nusra-Front, gehalten.

"Aus dem Osten kommt das Licht"
An der Schnittstelle zwischen den Routen zum Mittelmeer und nach Asien gelegen, war sie stets Objekt der Begierde. Die Stadtstaaten der Antike sind in dieser Weltecke entstanden. Lange bevor es das römische, arabische und sonstige Großreiche oder viel später Nationalstaaten gab, bildeten Damaskus, Byblos im Libanon oder Ninive im heutigen Irak bereits das Zuhause für Hochkulturen. Aus Aleppo erreichte mit einiger Verspätung eine zivilisatorische Errungenschaft den Westen, nämlich die Seife. "Ex oriente lux" - aus dem Osten kommt das Licht, wie auch das Wortspiel von Orientierung und Orient illustriert. So manche Entwicklung, im Guten wie im Schlechten, nahm ihren Anfang im Orient.

Mythische Bedeutung für Islamisten
Für die Vertreter des Kalifats des Islamischen Staates, der sich seit Sommer 2014 von Nordsyrien in den westlichen Irak erstreckt und damit Grenzen teils aufgelöst hat, ist das Umland von Aleppo mythisch besetzt. Hier soll in Dabiq eine Endzeitschlacht zwischen den Gläubigen und Ungläubigen stattfinden. Jeder hat sein Motiv, Aleppo unter Kontrolle zu bringen.

Syrien in ethnisch geprägte Kantone zerrissen
Militärisch argumentiert, ist die Rückeroberung der gesamten Stadt für die Regierung Assad und ihre russischen Verbündeten strategisches Ziel, um das Patt in der geteilten Staat zu überwinden und die territoriale Kontrolle über das gesamte Land herzustellen. Syrien ist ähnlich wie einst der Libanon in den 1980er- oder Bosnien in den 1990er-Jahren in oft ethnisch geprägte Kantone zerrissen. Balkanisierung und Libanisierung bezeichnen den Zerfall eines Staates in gleichsam autonome Landesteile. Milizen kontrollieren oder terrorisieren die Bevölkerung, heben Steuern ein und ersetzen den Staat. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, um es mit den Worten des Propheten Kohelet zu sagen.

In einigen Regionen Syriens geht der Alltag weiter, in anderen hingegen tobt der Krieg. Massaker und Hunger hinter der Frontlinie, gefüllte Märkte und eine gewisse Normalität auf der anderen Seite. Die Distanz dazwischen kann nur einige Meter betragen. Aleppo erlebt diesen brutalen Surrealismus in unserer Zeit. Beirut machte dies jahrzehntelang durch. Libanesische Journalisten interviewen derzeit Aleppiner, die im relativ ruhigen Bezirk von Hamdanieh studieren, den Bus nehmen, am Abend ausgehen und Ablenkung vom Gräuel suchen.

"Wir versuchen einfach zu vergessen"
So beschreibt der Student Jack Kazanji in einem Interview: "Wir versuchen einfach zu vergessen, was gleich nebenan passiert, indem wir uns auf das Lernen oder einfach nur auf Musikhören konzentrieren." Die 35-jährige Joumana Omar im gepeinigten Osten von Aleppo erzählt für "L'Orient le Jour": "Es klingt absurd, aber dazwischen einen kleinen Einkauf zu erledigen tut einfach gut." Die Sehnsucht nach etwas Normalität und vor allem nach einem Schweigen der Kanonen ist unendlich groß.

Kriege enden bekanntlich nur dann, wenn alle erschöpft sind und merken, dass sie auf dem Schlachtfeld nichts mehr ausrichten können. Die Menschen in Syrien sind schon längst müde. Es tobt aber in Syrien kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg vieler Stellvertreter. Die Liste der Geldgeber und ihrer Handlanger ist lang. Im politischen Vakuum, das die Irak-Invasion 2003 auslöste, entstanden radikale Kräfte, die nun auch Syrien erfassen. Und aus aller Welt strömen Dschihadisten in das Land, um ihren Traum eines Kalifats, einer "gerechten islamischen Gesellschaft", wie einst zu Zeiten des Propheten, aufzubauen.

"Eure Moslems in Europa sollen nicht unser Land zerstören"
"Bitte sagt euren Moslems in Europa, sie sollen nicht unser Land zerstören", dies hört man oft genug von Syrern, die nur zu überleben versuchen. Die Ernüchterung über religiöse Heilsversprechen wächst unter den Menschen im Nahen Osten.

An der Küste und auch in der Hauptstadt Damaskus geht indes das Leben weiter. Bashar al-Assad erhält permanent Interviewanfragen. Parlamentarier aus Europa, die ihn im Präsidentenpalast aufsuchen, bekunden: "Man hat nicht den Eindruck, dass hier ein Politiker sitzt, der auf der Verliererstraße ist."

Auf diplomatischer Ebene scheint sich die Forderung "Assad muss weg" seit dem Vorjahr in die Formel einer Übergangslösung verwandelt zu haben. Als Hillary Clinton noch US-Außenministerin war, rief sie ihrem russischen Kollegen zu: "Wir haben Mubarak fallen lassen, ihr müsst Assad aufgeben." Der russische Außenminister Lawrow meinte: "Dies ist nicht die Tradition russischer Diplomatie". Auf dem syrischen Schachbrett geht es um viele regionale und auch weltpolitische Dossiers. Am Ende wird kaum ein Neubeginn mit Frieden stehen. Doch eine Art Stabilisierung und ein Wiederaufbau mit vielen Profiteuren könnten erfolgen. Die vielen ungelösten Probleme werden aber weitergehen - auch in Europa. Denn der Nahe Osten ist bekanntlich sehr nah.

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