Unzurechnungsfähig?

Die zwei Gesichter des Todeslenkers von Graz

Österreich
20.09.2016 15:28

Der Unterschied könnte nicht größer sein: einerseits das zur Fratze verzerrte Gesicht des Amokfahrers, der der Kamera den Mittelfinger entgegenstreckt. Und jetzt sein Auftritt vor Gericht: Alen R. im sommerlichen weißen Anzug, mit Brille und akkuratem Haarschnitt. "Wer ist der echte Alen R.?", fragt der Vorsitzende am ersten Prozesstag zur fatalen Amokfahrt in Graz im Sommer 2015 - und äußert Zweifel an der angeblichen Geisteskrankheit des Täters.

"Dieser 20. Juni 2015 war für viele eine Zäsur", beginnt Staatsanwalt Rudolf Fauler sein berührendes Plädoyer. Kurz schildert er nochmals die Eckdaten der Amokfahrt: Drei Menschen, unter ihnen ein vierjähriges Kind, starben, 52 Personen wurden teilweise schwer verletzt. Viele sind für ihr Leben gezeichnet.

Dann kommt Kollege Hansjörg Bacher auf die Kernfrage des Prozesses zu sprechen: War Alen R. (27) zurechnungsfähig? Nein, sagen zwei Gutachter und attestieren ihm eine paranoide Schizophrenie. Die Ankläger empfehlen daher eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, denn nur ein weiterer Experte hält den Täter für verantwortlich.

Richter Andreas Rom vergeudet keine Zeit mit der tristen Lebensgeschichte des "Betroffenen" und kommt schnell zur Sache, zur Amokfahrt. Alen R.: "Ich wollte an diesem Samstag auf dem Griesplatz in Graz eine Frau treffen, die ich nur aus dem Internet kannte." Doch die tauchte nicht auf.

Alen R. setzt fort: "Plötzlich wurde ich von Männern bedroht und habe Schüsse gehört. Ich war in totaler Panik, ich dachte, mein Herz bleibt stehen. Deshalb bin ich losgerast. Ich dachte, ich werde verfolgt." Er sagt das mit leiser Stimme, kaum verständlich, und er sackt dabei in seinem Sessel zusammen, als wollte er die Bedrohung für alle spürbar machen.

Richter: "Sieht nach gezielter Lenkbewegung aus"
Der Richter kontert mit etwas anderem: Die Polizei hat ein Video von der Amokfahrt hergestellt. Es sind dies Aufnahmen aus allen Überwachungskameras entlang der Strecke. Man sieht, wie Menschen in Panik vor dem heranrasenden zwei Tonnen schweren SUV zur Seite springen. Viele schaffen es, manche nicht.

Dieser Film des Schreckens wirft Fragen auf. Denn Alen R. fährt oft in Schlangenlinien, manchmal auch auf dem Gehsteig. "Das sieht nach gezielter Lenkbewegung aus", mutmaßt der Richter und fragt: "Warum haben Sie Leute anvisiert?" Er bekommt nur das Aussage-Stereotyp zu hören: "Ich wurde bedroht."

"Warum bleiben Sie dann vor einem Spar-Markt stehen, steigen aus und stechen auf Leute ein?", fragt der Richter weiter. "Und warum fahren Sie in der Herrengasse nicht gerade auf den Straßenbahnschienen, wenn Sie schon schnell weiterkommen wollen, sondern entlang der Hausmauer, wo viele Menschen sind?", will der Vorsitzende wissen und präsentiert dann seine Sicht der Dinge: "Der 20. Juni 2015 war der schrecklichste Tag Ihres Lebens. Zu diesem Zeitpunkt war die Frau nach Streitigkeiten mit den Kindern im Frauenhaus. Sie wohnten im zweiten Stock bei den Eltern. Sie waren beruflich völlig erfolglos, und dann kommt die Frau nicht, mit der Sie ein Treffen vereinbart haben. Da sind Sie losgerast und dachten sich: Ich will Graz zeigen, dass ich doch Macht habe."

"Dieser Mensch hat alles vernichtet!"
Dann zählt der Richter all jene Punkte auf, die an einer Wahnsinnsfahrt eines Geisteskranken zweifeln lassen und durchaus den Verdacht nähren, dass es eine Art Plan gab. So hat Alen R. bevor er nach Graz losgefahren ist, sämtliche PC-Festplatten gelöscht. Begründung kann er dafür keine angeben.

Nächstes Stichwort: islamistischer Terror. Mit einem als radikalen Hassprediger verurteilten Imam gab es einen - aufgezeichneten - Telefonkontakt. Dabei wurde nur über einen Autokauf gesprochen, aber die Frage bleibt: Gab es auch andere Gespräche? Und das Muster des Amoklaufs erinnert ja frappant an einen Aufruf des in Wien vor Jahren verurteilten Mohamed M., der empfahl: "Nehmt ein Auto und fahrt damit auf Kuffar (Ungläubige, Anm.) los oder nehmt ein Messer und stecht auf sie ein."

Verdächtige Korrektur am Protokoll
Nächster Punkt: Bei seiner ersten Einvernahme nach der Verhaftung hat Alen R. sein Protokoll sehr genau durchgelesen und einige Änderungen vorgenommen - handschriftlich. Von dieser Befragung durch eine Amtsärztin gibt es auch ein Video, das im Gerichtssaal vorgespielt wird. Es zeigt einen Alen R., der einerseits - wieder einmal - über seine Bedrohung jammert, andererseits auch ganz andere Seiten zeigt: Er wirkt schnippisch, zynisch und eiskalt, wie auch der Richter hervorhebt.

Als er zum Beispiel nach dem Namen seiner Frau gefragt wird, sagt er nur: "Schauen Sie doch im Computer nach." Herrn Rat stört wohl auch, dass Alen R. seine Verantwortung ständig ändert. Auch wo er die Schüsse gehört hat, die ihn so in Panik versetzt haben, weiß er nicht mehr so genau. Und dass er bis heute kein Mitgefühl für seine Opfer zeigt. In einer Befragung hat er einen Vergleich bemüht: "Das ist so, wie wenn einer die Treppe runtergestoßen wird und dabei jemanden mitreißt." Mehr fällt ihm dazu nicht ein. Für Alen R. waren all die Opfer also eine Art Kollateralschaden, mehr nicht.

Grazer Bürgermeister entkam Alen R. nur knapp
Der prominenteste der mehr als 130 für das Verfahren geladenen Zeugen wurde am ersten Prozesstag direkt nach Alen R. befragt: Der Amokfahrer war damals haarscharf am Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl vorbeigedonnert.

Nagl widersprach entschieden der Aussage Alen R.s, dieser habe die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren: "Ich bin mir sicher, dass er die Person vor mir anvisiert hat." Nagl: "Er hat hinter mir mit unglaublicher Geschwindigkeit zwei Personen niedergefahren, die sind danach wie Puppen auf dem Gehsteig gelegen."

Opfer: "Muss jetzt wieder von Null anfangen"
Eines dieser beiden Opfer war Adisa N. Sie hat ihren Mann bei der Amokfahrt verloren, erzählt unter Tränen von ihrem Leid: vom seelischen Schmerz durch den Verlust ihres Mannes, von den körperlichen Qualen. Zwei Monate Spital, vier Monate Reha. "Ich konnte zwei Monate nicht gehen. Ich habe Pläne gehabt, dieser Mensch hat alles vernichtet. Ich muss jetzt wieder von Null anfangen."

Berührend die Aussage eines älteren Iraners. Ihn und seine Frau hat Alen R. nicht nur niederfahren wollen, er ist ausgestiegen und hat sie mit dem Messer attackiert. Der Mann bedankt sich bei den Passanten, die ihnen geholfen haben, bei der Polizei, beim Spitalspersonal und beim Gericht: "Ich bin dankbar, dass ich herkommen und aussagen konnte."

Am Mittwoch wird der Prozess mit den Einvernahmen weiterer Opfer fortgesetzt.

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