Experte prophezeit:

“Eine Million Syrer flüchtet heuer nach Europa”

Ausland
18.02.2016 06:38

Obwohl immer mehr Staaten ihre Grenzen schließen und die Zahl der Flüchtlinge begrenzen wollen, ist der nächste große Ansturm auf Europa nur eine Frage der Zeit. Zehntausende Syrer sind aufgrund der Kämpfe in Aleppo bereits auf dem Weg zur türkischen Grenze. Der französische Syrien-Experte Fabrice Balanche warnt: "Wenn die Tendenz anhält, flüchtet heuer noch eine Million Syrer nach Europa." Unter sie könnten sich auch Rebellen, die bisher gegen das Assad-Regime kämpften, mischen.

Der zu erwartende neue Flüchtlingsstrom hätte drei Hauptgründe. "Allein von den Kämpfen um Aleppo sind zwei Millionen Menschen betroffen. Hinzu kommen noch viele aus anderen Städten, wo sich die Wirtschaftslage stetig verschlechtert. Und auch den Familiennachzug darf man nicht vergessen", sagte Balanche in einem Interview mit dem "Spiegel".

Im Vorjahr kamen rund 500.000 Syrer nach Europa
Bereits Anfang Jänner hatte der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller vor einer neuen Fluchtbewegung nach Europa, im Speziellen nach Deutschland, gewarnt: "Erst ein Zehntel der in Syrien und im Irak ausgelösten Fluchtwelle ist bei uns angekommen." Laut EU-Grenzschutzbehörde Frontex kamen im Vorjahr rund 500.000 Syrer nach Europa, heuer sollen es demnach doppelt so viele sein.

"Familiennachzug und Sozialleistungen beschränken"
Wie Europa neue Flüchtlingsströme beschränken könnte? "Es wird notwendig sein, den Familiennachzug sowie die Sozialleistungen zu beschränken, obwohl ersteres ein im europäischen Recht verankertes Menschenrecht ist. Wenn dies aber nicht geschieht, werden die Wanderungsbewegungen anhalten, und das ist auf Dauer nicht haltbar", sagte Balanche. Keinen Sinn hätten ihm zufolge europäische Geldflüsse Richtung Syriens Nachbarländer. "Deren Lebensbedingungen sind so viel schlechter als jene in Europa. Zudem werden mit der Familienzusammenführung ohnehin Tausende kommen. Migration ist eine Familienstrategie."

"Erdogan wird die Grenze nicht ewig schließen können"
Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Grenze zu Syrien geschlossen hat, werde die Syrer nicht an der Flucht hindern. "Erdogan macht das aus strategischen Gründen, er will mehr Geld von der EU. Aber er wird die Grenze nicht ewig geschlossen halten können. Außerdem gibt es immer andere Wege, um reinzukommen."

"Die Rebellen wissen, dass sie verlieren werden"
Balanche geht weiters davon aus, dass auch immer mehr syrische Rebellen fliehen werden, die bisher gegen das Regime von Staatschef Bashar al-Assad kämpften. "Sie wissen, dass sie verlieren werden, andere werden sich radikaleren Milizen anschließen." Ob sich auch Terroristen der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat unter Flüchtlinge mischen könnten, wollte der Experte nicht sagen. Einen diesbezüglichen Verdacht gibt es aber schon länger, auch die "Krone" hatte darüber wiederholt berichtet. Ein US-Geheimdienstkoordinator bestätigte unlängst die Befürchtungen.

Intervention Russlands hat Flüchtlingsstrom verstärkt
Für Balanche hat übrigens der Eintritt Russlands in den Syrien-Krieg die Fluchtbewegungen verstärkt. Moskau setzt seine Luftwaffe bekanntlich aufseiten Assads ein. "Russland will die Zivilisten zur Flucht drängen, das ist eine Strategie zur Aufstandsbekämpfung. Die Menschen wissen nicht mehr, wohin sie in Syrien fliehen sollen."

"Flüchtlinge sind für Assad eine Waffe gegen Europa"
Die UNO schätzt, dass seit der russischen Intervention mindestens 300.000 Menschen fliehen mussten. In manchen der von Assad-Truppen zurückeroberten Regionen sei es Flüchtlingen sogar verboten zurückzukehren. "Für Assad sind die Flüchtlinge auch eine Waffe gegen die Türkei, Jordanien und Europa. Diese Waffe kann bewirken, dass Europa aufhört, Assads Rücktritt zu verlangen", so Balanche.

UNO-Hilfskonvois verteilen Güter in mehreren Städten
In Syrien sind unterdessen Hilfskonvois der Vereinten Nationen am Mittwoch in fünf von Regierungstruppen belagerten Städten eingetroffen. Sie sollen rund 100.000 Bewohner mit Nahrungsmitteln, Wasser und Medizin versorgen. Die knapp 100 Lastwagen mit Hilfsgütern fuhren aus Damaskus Ziele in der Nähe der Hauptstadt sowie im Nordwesten des Landes an. Die Städte werden von verschiedenen Konfliktparteien des syrischen Bürgerkriegs belagert.

500 Kämpfer von der Türkei aus nach Syrien gereist
Der Krieg in Syrien dauert bereits fünf Jahre, es ist keine Entspannung der Lage in Sicht: Am Mittwoch meldete die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, dass 500 bewaffnete Kämpfer die türkisch-syrische Grenze überquert hätten, um den Fall der Stadt Azaz in der Provinz Aleppo zu verhindern. Unter den Kämpfern sollen sich sowohl gemäßigte Rebellen als auch Islamisten befinden.

Die Luftangriffe der westlichen Koalition gehen weiter, allerdings zieht sich nun Kanada zurück: Ministerpräsident Justin Trudeau kündigte am Montag an, dass sechs Kampfjets bis 22. Februar abgezogen würden. Der im Oktober gewählte Regierungschef erfüllt damit eines seiner Wahlversprechen. Israel hingegen bombardierte laut Angaben von Aktivisten erneut Stellungen der syrischen Armee nahe der Hauptstadt Damaskus.

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