Junge Islamisten

Die “Stiefkinder der Gesellschaft”

Steiermark
20.07.2015 20:21
Der Soziologe und Integrationsexperte Kenan Güngör im Gespräch über Verständigungsprobleme zwischen Alt-Österreichern und jungen Zuwanderern, die Gründe, warum Jugendliche zu Dschihadisten werden, und wie man mit dem radikalen Islam umgehen sollte.

Ob das nun allen passe oder nicht, die Multi-Kulti-Gesellschaft sei ein Faktum, sagt Güngör, ein Kurde, der in der Türkei geboren wurde, in Köln aufwuchs und heute in Wien lebt. Es gehe darum, das Beste daraus zu machen. "Wir sollten versuchen, besser miteinander auszukommen. Ich bin nicht für einen Schmusekurs, im Gegenteil, man muss die Probleme klar ansprechen." Das Wie sei entscheidend: "Was aufhören muss, ist das Wir-Ihr-Denken!" Wir Österreicher, ihr Ausländer. Und umgekehrt. Er nennt ein konkretes Beispiel: "Im Gemeindebau sind in vielen Wohnungen, die frei wurden, kinderreiche Migrantenfamilien eingezogen. Das schafft Konflikte. Statt aus dem Fenster zu schimpfen, ,bei uns da in Österreich ist am Abend eine Ruhe‘, könnte man sagen, ,seid bitte etwas leiser, das hallert so und wir können nicht schlafen‘", sagt Güngör, "soll heißen, ,du gehörst zu uns dazu, aber dein Verhalten ist nicht okay.‘" Es gehe um gegenseitigen Respekt.

"Radikalisierung geht oft sehr schnell"
Ausländer- und Islamfeindlichkeit würden nicht ohne Folgen bleiben, mahnt der Experte. Jugendliche mit Migrationshintergrund, die zwar hier aufgewachsen sind, aber nicht das Gefühl haben, dazuzugehören, seien anfällig dafür, sich zu radikalisieren. "Sie fühlen sich als Stiefkinder der Gesellschaft. Und dann kommen die Salafisten und sagen: ,Du bist einer von uns!’", erklärt Güngör. Es handle sich oft um Jugendliche, die nicht aus einem streng gläubigen Elternhaus kommen und bislang wenig mit Religion zu tun hatten: "Ein Jahr vorher haben sie nicht einmal gewusst, wo Syrien ist, und dann konvertieren sie auf einmal zum radikalen Islam." Güngör verwendet ganz bewusst das Wort "konvertieren", weil Salafismus, Dschihadismus, Terrorismus und der IS mit einem gemäßigten, toleranten und liberalen Islam nichts zu tun hätten. Erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden die Salafisten durch Koranverteilungen in Städten überall im deutschen Sprachraum. Auch in der steirischen Landeshauptstadt hatten sie ihre Stände. In den Hinterhofmoscheen der Salafisten werden junge Leute für den "Heiligen Krieg" in Syrien und im Irak rekrutiert.

Salafismus als Jugendbewegung
Als Pierre Vogel, ein ehemaliger Amateurboxer, Konvertit und einer der Anführer der Bewegung in Deutschland, vor einigen Jahren im Gebetshaus "Subul el Salam" beim Grazer Schlachthof zu Gast war, kamen die Jugendlichen in Scharen, um den "Hassprediger" zu sehen. Güngör spricht von einer "radikal-islamistischen, jugendkulturellen Bewegung". Es gehe auch um den Protest gegen das Establishment: "Die Jugend ist eine Phase der Sinnsuche. Während andere diesen Sinn in der Hip-Hop- oder Punk-Kultur finden, finden manche Jugendliche ihn im Salafismus."
Die Jugendlichen würden dabei auf perfide Weise manipuliert. Es werde mit einem Ungerechtigkeitsgefühl gearbeitet: "Ihnen wird gesagt, dass Muslime weltweit unterdrückt, ihre Brüder und Schwestern umgebracht werden und sie da nicht tatenlos zusehen dürfen", erklärt Güngör.

Zudem würden die Islamisten die Orientierungslosigkeit und die spirituelle Leere vieler Jugendlicher ausnutzen. "Die Welt wird immer unüberschaubarer, Jugendliche suchen Eindeutigkeit", sagt Güngör. In der Welt der fanatischen Islamisten gebe es nur Schwarz und Weiß, Himmel und Hölle – "wie im Mittelalter". Gleichzeitig würden sie den Jugendlichen das Gefühl von sozialer Wärme vermitteln, nach dem Motto: Wir sorgen uns um dich.
Hier dürfe man nicht tatenlos zusehen, mahnt Güngör. Jugendzentren komme im Kampf gegen Radikalisierung große Bedeutung zu. "Eine von uns durchgeführte Studie mit 400 Einzelinterviews hat ergeben, dass die Jugendarbeiter Bezugspersonen für die Jugendlichen sind. Von ihnen lassen sie sich etwas sagen." Sie sollten daher geschult werden. Die für den Jugendbereich zuständige Grazer Vizebürgermeisterin Martina Schröck (SP) hat hier bereits erste Schritte gesetzt.

"Ein schlechter Lehrer kann viel anrichten"
Genau hinschauen müsse man auch beim Islamunterricht und bei Korankursen, meint Güngör. In der Murmetropole gab es immer wieder Fälle von islamischen Religionslehrern, die radikales Gedankengut verbreiteten. Davor müsse man junge Menschen schützen, betont der Experte: "Man darf nicht alle Lehrer diffamieren. Aber ein einziger schlechter Lehrer, der 100 Kinder unterrichtet, kann viel anrichten!" Güngör nimmt auch die Migranten-Communitys in die Pflicht. "Die überwiegende Mehrheit der Muslime verachtet den IS und alles, was damit zu tun hat!" Aber das reiche nicht: "Sie müssen mehr Verantwortung übernehmen, Haltung zeigen und Gegenstrategien entwickeln!"

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