From Syria with Love

So erobert der Dschihad die sozialen Netzwerke

Web
01.07.2014 10:39
"@chechclear" lebt nach eigenen Angaben seit zwei Jahren auf den "Schlachtfeldern Syriens". Sein Profil auf der Fotoplattform Instagram ist voll mit Bildern, die ihn in Camouflage-Uniform zeigen, inmitten zerbombter Gebiete, auf Panzern, oft mit Kalaschnikow. Auf ask.fm beantwortet er bereitwillig die Fragen aller, die sich für den bewaffneten Kampf in Syrien interessieren. Denn längst ist der "globale Dschihad" in den sozialen Netzwerken angekommen, und "@chechclear" ist dafür bei Weitem nicht das einzige Beispiel.

Ob Facebook, Twitter, ask.fm, Instagram oder die Bloggerplattform Tumblr, sie alle sind voll mit mehr oder weniger heroischen und wahrheitsgemäßen Beschreibungen dessen, was im syrischen Bürgerkrieg gerade geschieht. Der Konflikt ist der erste, der praktisch in Echtzeit auf sozialen Netzwerken dokumentiert wird - eine "unverzichtbare Informations- und Inspirationsquelle für Kämpfer", heißt es in einer vor kurzem veröffentlichten Studie der Londoner Forschungseinrichtung ICSR (International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence).

Bedeutend für Verbreitung extremistischer Ideologien
Auch, weil der Großteil der ausländischen Syrienkämpfer in die Altersgruppe der 18 bis 29-Jährigen fällt und für traditionelle Medien kaum noch empfänglich ist. "Self selected bubbles" (selbst ausgewählte Blasen), nennt das die Soufan Group, ein sicherheitspolitischer Think Tank mit Hauptsitz in New York. Twitter und Facebook dienten nicht nur als Informationsquelle darüber, was vor Ort geschieht, sondern seien auch "äußerst bedeutend" für die Verbreitung extremistischer Ideologien und das Fundraising sowie die Rekrutierung extremistischer Gruppen, so die Experten.

Vorreiter in sozialen Netzwerken sowie in der Rekrutierung ausländischer Kämpfer sind Ahrar al-Sham, Jahat al-Nusra und vor allem ISIS (Islamischer Staat im Irak und Großsyrien), die sich jüngst in Islamischer Staat (IS) umbenannte. 190 Profile von im Bürgerkrieg kämpfenden Ausländern in sozialen Medien hat ICSR ausgewertet, 55 Prozent von ihnen bekannten sich zu ISIS, 14 zur al-Nusra. Die radikal-salafistischen Gruppen sind nicht nur meist besser organisiert als ihre gemäßigteren Gegenspieler der Freien Syrischen Armee, sie verfügen auch über die nötigen Sprachkenntnisse, um jene aufzunehmen, die kein Arabisch beherrschen.

"Dschihadistisches Disneyland"
Wie bedeutend Sprachkenntnisse in einem Konflikt sind, der nach Schätzungen der Soufan Group bereits mehr als 12.000 ausländische Kämpfer aus mindestens 81 Nationen angezogen hat, verdeutlicht auch "@chechclear" alias Israfil Yilmaz. Als nach eigenen Angaben Türke mit syrischen Wurzeln, der in der niederländischen Armee gedient hat, schreibt er auf Türkisch, Niederländisch und Englisch. Zudem beherrscht er die in sozialen Netzwerken gängige Bildsprache perfekt: Seine Fotos sind meist in Schwarz-Weiß oder Sepia gehalten, mit einzelnen Akzenten in Farbe. Neben Szenen des Bürgerkriegs finden sich darauf auch immer wieder süße Kinder, niedliche Katzen neben Kalaschnikows oder idyllische Landschaftsbilder. "From Syria with Love" steht unter dem Foto eines Kämpfers, aus dessen Gewehrmündung eine violette Blume wächst.

Vor allem ISIS-Dschihadisten seinen oft mehrmals am Tag online und würden soziale Netzwerke nutzen, um sich selbst in Szene zu setzen, sagt der österreichische Islam-Experte Thomas Schmidinger. Das diene auch dazu, "gegenüber denen zu prahlen, die zuhause geblieben sind oder zukünftige Ehefrauen zu beeindrucken, die man nachholen möchte". Die negativen Seiten des Konfliktes bzw. "moralisch nicht gerechtfertigte" Kriegsverbrechen wie etwa Vergewaltigungen würden ausgeblendet. "Was bleibt, ist eine zweifach gefilterte Message: Einerseits von ISIS, andererseits von großspurigen, pubertierenden Jugendlichen. So entsteht ein dschihadistisches Disneyland."

Aber welche Rolle spielen soziale Netzwerke bei der Rekrutierung künftiger Syrienkämpfer tatsächlich, sind sie dabei, radikalen Predigern den Rang abzulaufen? Schmidinger spricht von einem "sehr wichtigen Kanal". Die Bedeutung der persönlichen Mobilisierung mittels "Hinterhofsalafisten" nehme im Vergleich dazu ab. Freilich ziehe nur eine "ganz kleine Minderheit" derer, die von den syrischen Heldenepen auf Facebook und Twitter fasziniert sind, tatsächlich in den Bürgerkrieg. "Doch wenn man es will, ist es relativ leicht zu gehen. Und dann findet man über soziale Netzwerke auch die entsprechenden Kontakte."

Kein Fall von "Selbstradikalisierung" via Web in Österreich
Bei den österreichischen Behörden heißt es hingegen, es sei kein Fall "reiner Selbstradikalisierung" über das Internet bekannt. Allerdings verweist man auf die beiden Wiener Mädchen, die Österreich Anfang April in Richtung Türkei verließen, um in den syrischen Bürgerkrieg zu ziehen. Hier seien "soziale Netzwerke und der Freundeskreis zentral gewesen, Moscheen weniger".

Auch Behnam Said, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz und Herausgeber des Sammelbandes "Salafismus. Die Suche nach dem wahren Islam", glaubt nicht an eine reine Selbstradikalisierung über soziale Netzwerke: "Ich bin da vorsichtig. Zwar ist das in Einzelfällen schon vorgekommen, doch in den meisten Fällen spielt die Radikalisierung im Freundeskreis eine bedeutende Rolle." Daher bleibe der "Austausch im Realraum" weiterhin zentral. "Auch wenn das Internet die Kommunikation leichter gemacht hat und es heute einfacher ist, Netzwerke aufzubauen und Propaganda zu verbreiten."

Deutscher Verfassungsschutz rüstet auf
Dennoch gab der deutsche Verfassungsschutz gerade erst die Gründung eines eigenen Referates zur Überwachung sozialer Netzwerke bekannt. 75 Personen sollen dort laut Informationen der "Süddeutschen Zeitung" beschäftigt sein, die enormen Datenmengen auch mittels eigens entwickelter computergestützter Systeme auszuwerten. Eine personelle Situation, von der die österreichischen Kollegen nur träumen können. Aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung heißt es offiziell nur, man "betrachte diese Aspekte ganzheitlich". Eine spezialisierte Stelle für die Beobachtung dschihadistischer Propaganda gibt es nicht.

USA setzen auf Gegenpropaganda
Auf einen etwas anderen Weg setzt das US-State Departement. Hier streitet das Center for Strategic Counterterrorism Communications auf Twitter unter "@ThinkAgain_DOs" mit Dschihadisten und produziert eigene YouTube-Videos, um die blutige Realität des Bürgerkrieges zu zeigen. In einem sieht man etwa den deutschen und mittlerweile offenbar getöteten Salafisten Denis Cuspert durch eine verschneite syrische Winterlandschaft tollen. "Wir haben auch Spaß, es ist nicht alles so gruselig, wie alle sagen", strahlt er wenig später in die Kamera. Das Ende kommt unvermutet: Cuspert liegt blutüberströmt am Boden.

Der Ansatz, mittels Gegenpropaganda auf die zunehmende Präsenz dschihadistischer Ideen im Internet zu reagieren, werde auch in Europa bereits diskutiert, heißt es aus österreichischen Sicherheitskreisen. Diese müsse jedoch glaubwürdig sein und daher aus der islamischen Community selbst kommen und auf einer religiösen Argumentation basieren. Erste Kontakte zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung und im Religionsbereich tätigen Muslimen gebe es bereits.

"Alternativen zum bewaffneten Kampf aufzeigen"
Benham Said vom Hamburger Verfassungsschutz wiederum sieht eine mögliche Lösung darin, die Aktivitäten humanitärer Organisationen in Syrien mehr in den Mittelpunkt zu rücken. "Der Wunsch, in den Kampf zu ziehen, entsteht zum Teil auch aus dem Eindruck, der Westen lasse Syrien im Stich. Radikale Prediger sprechen gezielt das Ungerechtigkeitsempfinden vieler Jugendlicher an. Man muss ihnen Alternativen zum bewaffneten Kampf aufzeigen."

Denn der Wunsch, in den Dschihad zu ziehen, entsteht ein Stück weit immer aus der Verpflichtung, als Teil der globalen islamischen Gemeinschaft, der "Ummah", anderen Muslimen in Not zu helfen. Er leiste so viel humanitäre Hilfe wie möglich, schrieb der Syrienkämpfer "@chechclear" erst vor wenigen Tagen auf ask.fm. "Denn Dawah (Mission) und Dschihad gehen Hand in Hand. Ich liebe die Menschen, und ich liebe es, den Schwachen und Unterdrückten zu helfen."

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