Türken in Österreich

Kurz: “Viel zu spät mit Integration begonnen”

Österreich
23.06.2014 06:23
Durch den umstrittenen Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Wien ist das Thema Integration vor allem der österreichischen Bürger mit türkischen Wurzeln wieder etwas weiter in den Mittelpunkt gerückt. Der für die Integrationsagenden zuständige Außenminister Sebastian Kurz räumte dazu auch Verfehlungen der Politik ein: "Mit dem Thema Integration wurde viel zu spät begonnen", so Kurz in der ORF-Diskussionssendung "Im Zentrum" zum Thema "Erdogans Werbetour – Provokation auf Türkisch?" am Sonntagabend.

Kurz bekräftigte in der Sendung, dass Erdogans Rede vor rund 13.500 Anhängern in Wien "nicht hilfreich" für die Integrationsbemühungen der österreichischen Regierung gewesen sei und zu einer weiteren Emotionalisierung des Themas geführt habe. Vor allem Erdogans Anrede seiner Anhänger als die Nachfahren der Türkenbelagerer (wörtlich "die Enkel des Sultans Süleyman des Prächtigen", dessen Heer 1529 vor den Toren Wiens stand) sei "eine Provokation" gewesen. Und auch die Aufforderung an die österreichischen Türken, sich zwar zu integrieren, aber nicht zu "assimilieren", sei eindeutig provokant gemeint gewesen, da von österreichischer Seite keine Assimilation von Bürgern mit Migrationshintergrund verlangt würde.

Zusätzlich dazu sei die Art des privaten Besuches des türkischen Premiers "eher ungewöhnlich und vielleicht auch nicht besonders höflich dem Gastland gegenüber gewesen". Üblicherweise treffe man sich etwa mit dem Bundeskanzler oder dem Bundespräsidenten des Landes, erklärte Kurz.

Protest gegen Veranstaltung laut Kurz "nicht übertrieben"
Der Protest gegen die Veranstaltung sei seiner Ansicht nach daher "nicht übertrieben" gewesen, zumal Österreich schon vor Erdogans Besuch eine "klare Haltung" zu dessen Vorhaben gehabt habe, "wohl wissend, wie Veranstaltungen in Deutschland abgelaufen sind", so Kurz. "Unsere Sorge hat sich leider Gottes im Nachhinein als richtig herausgestellt." Österreich sei zwar ein kleines Land, habe aber trotzdem das Recht auf eigene Standpunkte, erklärte der Außenminister.

Zum Thema Integration der türkischen Mitbürger betonte Kurz, wie wichtig es sei, dass Integration aus beiden Richtungen geschehe, und pries naturgemäß die Bemühungen der Regierung in den letzten drei Jahren – seit seiner Bestellung zum Integrationsstaatssekretär –, die bereits Früchte trügen. Allerdings, so räumte er ein, hätten diese Bemühungen "sehr spät begonnen", denn jahrzehntelang sei es verabsäumt worden, sich ausreichend um die ins Land geholten Gastarbeiter zu kümmern.

"Nicht eingestanden, dass wir ein Einwanderungsland sind"
"Unsere Bemühungen sind, glaube ich, auf einem guten Weg, aber wenn wir uns die Geschichte der Türken in Österreich anschauen, so merkt man, dass wir natürlich sehr spät begonnen haben", so Kurz. "Wir haben seit 50 Jahren ein Anwerbeabkommen mit der Türkei, wir haben jahrzehntelang extrem viel Zuwanderung nach Österreich gehabt und haben uns nie eingestehen wollen, dass wir ein Einwanderungsland sind. Wir haben jahrzehntelang zwar Leute nach Österreich geholt, haben uns aber weder die Frage gestellt, sollen die Deutsch lernen, bleiben die da und was passiert mit der zweiten und dritten Generation?" Eine "politische Verantwortung auf der Bundesebene" mit der Gründung des Integrationsstaatssekretariats vor drei Jahren sei "relativ spät" passiert, damals seien schließlich schon 1,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich gewesen.

Soziologe: Wählerpotenzial für Erdogan nicht entscheidend
Der Soziologe Kenan Güngör erklärte, dass es über Jahrzehnte verabsäumt worden sei, sich um türkischstämmige Menschen im Ausland zu kümmern - sowohl vonseiten der Türkei als auch der Zielländer. Da dürfe man sich nicht wundern, wenn Erdogan so gut ankomme, erklärte er. Was das Thema "Den Wahlkampf nach Österreich tragen" angeht, so versuchte Güngör zu beruhigen und meinte, vom Wählerpotenzial für Erdogan ähnele Österreich einer kleinen Stadt in der Türkei, das sei "nicht entscheidend". Es gehe vielmehr darum, dass Erdogan sich jetzt symbolisch als Erster um türkische Migranten im Ausland kümmere.

Pro-Erdogan-Aktivist versteht "derartigen Aufschrei" nicht
Auch Fatih Köse, Mitbegründer der Plattform "New Vienna Turks", vertrat den Standpunkt, Erdogan habe etwas erfüllt, das die österreichische Politik verabsäumt habe. Die Regierung habe es versäumt, sich um "Wertkonservative" zu kümmern. "Das sollte doch nicht ein ausländischer Staatsmann machen müssen, Wertschätzung entgegenzubringen?", fragte er. Zudem kritisierte er eine "unfaire Sichtweise" auf den Besuch Erdogans. Ob der Premier Wahlkampf geführt habe oder nicht, wollte der Österreicher aus dritter Generation mit türkischen Wurzeln nicht beurteilen. Nur rund 90.000 Personen seien für die Wahlen in der Türkei zugelassen. "Muss es deswegen einen derartigen Aufschrei geben?", fragte er.

Kurz lehnt Privatschule für Imam-Ausbildung weiterhin ab
Eine erneute Absage gab es von Kurz und der grünen Integrationssprecherin Alev Korun für den Plan der Islamischen Föderation, in Wien eine türkischsprachige Privatschule zu errichten, an der Imame ausgebildet werden sollen. Er lehne dies ab, vor allem da es an der Universität Wien bald eine entsprechende Ausbildung für österreichische Muslime geben soll, die auf Deutsch predigen sollen.

"Wir haben viel zu tun und noch einen weiten Weg vor uns"
Gefragt, ob er derselben Meinung wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sei, die gesagt hatte: "Multikulti ist in Deutschland gescheitert", sagte Kurz, dass Österreich ein vielfältiges Land sei. Im Verlgeich zu anderen Ländern unterscheide unser Land aber, dass "wir nicht ein oder zwei Herkunftsgruppen oder Herkunftsländer haben, sondern wir haben eine ganze Bandbreite an Zuwanderern". Zu-, aber auch Anwanderung würden nicht abreißen, gescheitert sei Multikulti "hoffentlich nicht", aber: "Wir haben viel zu tun, wir haben viel zu spät begonnen und wir haben noch einen weiten Weg vor uns."

Der Hoffnung, dass Multikulti in Österreich nicht gescheitert ist, gab auch der Soziologe Güngör Nahrung: "Eine nicht integrierte Gesellschaft, eine gescheiterte Gesellschaft sieht ganz, ganz, ganz anders aus, dafür haben wir weltweit genug Beispiele."

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