Meisterwerk

Grandios: Roman Polanskis “Oliver Twist”

Kino
21.12.2005 16:02
Charles Dickens war erst 25 Jahre alt, als er das erschütternde Los des Waisenjungen Oliver zu Papier brachte. In einer grandiosen Leinwand-Adaption spürt der polnische Starregisseur diesem Schicksal aus dem 19. Jahrhundert nach...

Sie ist bitter, die Brot- und Hilflosigkeit des Waisenkindes Oliver Twist. Kein gütiger Blick erhellt das Dunkel seiner Kinderjahre. Das Martyrium des schmächtigen Jungen, der halb verhungert in einem Armenhaus schuftet, an einen Leichenbestatter verhökert wird und schließlich nach London türmt, wo er in die Fänge des geldgierigen Hehlers Fagin gerät und als kleiner Taschendieb sein elendes Dasein fristet, erschien 1837 unter dem Titel „Oliver Twist, or, the Parish Boy’s Progress“.

Das Werk verstört bis heute
Charles Dickens’ Schicksalsthriller aus dem 19. Jahrhundert, das erste Buch, das er unter seinem Namen veröffentlichen sollte, wurde in der Londoner Zeitschrift „Bentley’s Miscellany“, deren Chefredakteur er war, in monatlichen Folgen gedruckt. Seine Ablehnung der romantisierenden Darstellungsweise des Lebens auf der Straße, die den Leser in die erbärmliche und schmutzige Halbwelt des viktorianischen London führte, wo fauliger Moder als penetranter Duft der Armut in die Nase stach, verstört bis heute, griff Dickens doch ein zeitloses Thema auf: die Ausbeutung von Straßenkindern durch Kriminelle.

Ein Stoff, wie für die Leinwand gemacht. Die früheste Verfilmung: ein stummer Kurzfilm aus dem Jahre 1909. Frank Lloyds Version von 1922 gilt als der erste bedeutende „Oliver Twist“-Film. Und David Leans Adaption aus dem Jahr 1948 schrieb Kinogeschichte. Nicht zu vergessen Carol Reeds Musical „Oliver!“ aus dem Jahre 1968, das zu Oscar-Ehren kam.

„Ich schulde meinen Kindern einen Film“
Mit Polens Starregisseur Roman Polanski, der das Schicksal des Oliver Twist in atemberaubende Bilderwelten voll atmosphärischer Dichte packt, erfährt Charles Dickens’ düstere Magie ihre geniale Umsetzung. Auch Polanski trägt ein Stück verlorener Kindheit, eine traumatische Vergangenheit in sich – die Flucht aus dem Krakauer Ghetto, die Ermordung seiner Mutter in Auschwitz, der gewaltsame Tod seiner ersten Frau Sharon Tate –, er wischt jedoch Vergleiche beiseite: „Ich dachte mir, ich schulde meinen Kindern einen Film.“

Er landete bei Dickens, den er schon in Jugendtagen gelesen hatte: „Besonders mochte ich ,Great Expectations‘. Mit seiner Kritik an der Armengesetzgebung von 1834 stand Dickens nicht allein da, und er fand in dem Kind Oliver ein Mittel, sie von der humanistischen Seite her anzugreifen. Es gibt sie immer noch, diese Clochard-Kids, die der Hunger in die organisierte Kriminalität treibt. Dies ist auch der soziale Background von ,Oliver Twist‘. Denken wir nur an Megacities wie Bangkok, Bombay, Rio oderMexico City. Und der Überlebenskampf wird immer brutaler.“

„Der Schlingel war ständig am Üben“
Mit Oscar-Preisträger Sir „Gandhi“ Ben Kingsley verpflichtete Polanski einen mimischen Berserker für die Rolle des zwielichtigen Ausbeuters Fagin. Auch die Besetzung der Titelrolle durch den Briten Barney Clark war ein echter Glücksfall: ein 12-jähriger Bub, der wache Intelligenz und Melancholie in sich vereint und der von den 15-wöchigen Dreharbeiten in den Prager Barrandov Studios restlos begeistert war. Der talentierte Bengel kommt vom renommierten „Anna Scher Theatre“ in London und hat schon mehrere Produktionen hinter sich. Am meisten begeisterten ihn die Taschendieb-Instruktionen. Roman Polanski: „Abends, beim Verlassen des Sets, tastete jeder vorsichtig nach seiner Geldbörse. Der Schlingel war ja ständig am Üben...“

Text: Christina Krisch

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