Album-Rezension

Arcade Fire auf der Suche nach dem großen Ganzen

Musik
11.11.2013 17:00
Arcade Fire sind wieder da. Die kanadischen Superstars aus dem Indie-Sektor haben für ihr 70 Minuten starkes Doppelalbum "Reflektor" sämtliche musikalischen Grenzen gesprengt und mäandern dafür im großen Pop-Teich der Vergangenheit. Ein Hörvergnügen für tolerante Freigeister mit Liebe zur Grenzenlosigkeit.
(Bild: kmm)

Die Angst der eingefleischten Arcade-Fire-Fans war im Vorfeld groß. Mit James Murphy, dem Mastermind der legendären LCD Soundsystem, als Produzent, drohte doch tatsächlich die Verclubbung des vielgehypten Indie-Rock-Sounds der Kanadier. Bassist Timothy Kingsbury goss im Interview zusätzlich Öl ins Feuer. "Wir haben Musik entdeckt, die wir uns schon seit zehn Jahren nicht mehr angehört haben. Dadurch sind wir wieder mehr in Richtung Dance-Musik gerutscht. Wir alle lieben es, zu tanzen und Party zu machen."

Klotzen statt kleckern
Die großen Sorgen bleiben aber weitgehend unbegründet. Arcade Fire und James Murphy, eine pophistorische Kombination aus Dynamit und Nitroglyzerin, haben sich gar nicht erst mit schnöden Szenekategorisierungen aufgehalten, sondern das große Ganze in Angriff genommen. Auf "Reflektor" schaffen es die Kanadier nicht nur ein weiteres Mal locker, sich nicht selbst zu kopieren, sondern versuchen sich gleich an einer allumfassenden Pop-Retrospektive. Klotzen statt kleckern ist die Devise – vielleicht präsentieren sie ihren allergrößten Fürsprecher, David Bowie, als Gaststimme deshalb bereits im eröffnenden Titelsong.

Frontmann Win Butler sieht sich und die seinen gereift. "Ich bin wie ein Schwamm für den Schmerz anderer Menschen, der ideale Freund, der dich durch schwierige Beziehungen begleitet. Ich denke, wir befinden uns jetzt in einer Phase unseres Lebens, in der all unsere Freunde älter geworden sind und Kinder bekommen – dabei absorbierst du andere Vorstellungen und Ideen einer Beziehung als ein 19-Jähriger."

Aufruhr im Vorfeld
Um all diese Ideen und Vorstellungen zu bündeln, brauchte es dieses Mal schon ein 70-minütiges Doppelalbum. Angetrieben von einer geschickten Marketing-Maschinerie, die schon vor Albumveröffentlichung mit dem 20-minütigen Kurzfilm "Here Comes The Night Time" von Roman Coppola oder diversen Spontan-Konzerten auf Hochtouren lief.

"Reflektor" reflektiert nicht zuletzt auch die kosmopolitische Herangehensweise der Band an die Musik. Maßgeblich beeinflusst wurden sie von Haiti, der familiären Heimat von Sängerin Régine Chassagne, sie nahmen das Album dann im sumpfigen Louisiana und später im leichtfüßigen Jamaica auf. Es ist wohl mit der neugefundenen Neigung zur südlichen Hemisphäre erklärbar, dass Arcade Fire auf "Reflektor" die kanadische Reduziertheit abhandengekommen ist.

Ungleiches Gesangsverhältnis
Vor allem die erste Albumhälfte klingt ungewohnt ekstatisch und lebensbejahend. "Flashbulb Eyes" ist ein Indie-Dance-Lehrstück mit Drang zum Beat, "We Exist" dreht sich von unrhythmischen Loops zu einer sommerlichen Fröhlichkeit, die musikalisch durchaus an die kalifornischen Senkrechtstarter Awolnation erinnert, "Normal Person" atmet wieder deutlich mehr Indie-Luft, bevor auf "Joan Of Arc" endlich auch Chassagne in den Vordergrund rückt – eindeutiger als je zuvor hat auf "Reflektor" nämlich Win Butler das Mikro-Zepter in die Hand genommen.

Die Pop-Referenzen sind endlos. Hier eine Prise David Bowie, dort ein Schuss Talking Heads – hier ein wenig Joy Division, daneben eine Portion The Cure. Ein buntes Potpourri aus einer Vergangenheit, in der Pop noch kein Schimpfwort war. Entgegengesetzt dazu zelebrieren Arcade Fire auf der zweiten CD die große Drehung. Etwas entspannter, wesentlich zurückgezogener und dennoch mit breiter Brust exerzieren sie ihr Klanggebilde rund um den als Album-Vorbild zugrundeliegenden brasilianischen 50er-Jahre-Film "Black Orpheus".

Vielschichtige Opulenz
Dass Win Butler auf "Reflektor" mehr nach David Bowie klingt als je zuvor, ist wohl mehr Kalkulation als Zufall, steht dem gänzlich unbescheidenen Weg der Band aber sehr gut zu Gesicht. Ob der unermessliche Hype um das kanadische Kollektiv berechtigt ist oder nicht, muss jeder Hörer für sich selbst herausfinden. Liebhaber des legendären Debütalbums "Funeral" (2004) könnten ob der kompositorischen Vielschichtigkeit und Opulenz abgeschreckt werden – doch gezähmte Zurückhaltung hat längst keinen Platz mehr im Klangvakuum der Nordamerikaner.

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