Chaos und Charme

Berlin: Eine Weltstadt mit Schnauze erleben

Reisen & Urlaub
31.10.2013 10:43
Selbst die angeblich so ordnungsliebenden, nüchternen und korrekten Deutschen leben hier ihren Hang zu Freiheit und Chaos aus. Berlin, der bunte Schmelztiegel, die Metropole in ständigem Wandel, verführt Besucher langsam, fast unmerklich. Ein Streifzug durch einen der faszinierendsten Orte der Erde.

Wenn man es streng nimmt, ist Berlin ja keine Stadt. Eher ein buntes Sammelsurium an Städten. Mondän und abgerissen, nobel und ein bissel verwahrlost, hektisch und kreativ, herzlich und kaltschnäuzig. Hier gibt es alles. Das beschränkt sich nicht auf die Feinschmeckerabteilung im KaDeWe, dem größten Kaufhaus Europas.

Berlin hat Kultur in jeder Tonart. Hochkultur mit gleich drei Opernhäusern und den Philharmonikern, die in Hans Scharouns legendärem Bau residieren. Die Theater und Museen, oft in meisterhafte Architektur gehüllt: das jüdische Museum, die Nationalgalerie usw. Schier endloses Anschauungsmaterial für kulturbeflissene Reisende. Und es ist eine Stadt der Subkultur, am sichtbarsten durch die stets gegenwärtigen Graffiti. Die alternativen Kulturzentren, sie schießen hier, in der Kreativ-Zentrale Europas, aus dem Boden.

Stadt ändert ständig ihr Gesicht
Dabei ist es fast nicht möglich, die Stadt zu fassen. Sie verändert ständig ihr Gesicht. Unzählige junge Menschen zieht es in die Metropole. Hier muss man einfach einmal gelebt haben. Viele von ihnen nehmen nur ein paar Jahre später wieder Reißaus. Zu hektisch, zu aufwendig, zu fordernd ist das Leben in der gigantisch dimensionierten Stadt, die mehr als doppelt so groß ist wie Wien.

Dieses ständige Kommen und Gehen macht Berlin für Besucher besonders spannend: Wer ein paar Jahre nicht hier war, erkennt manches Viertel nicht wieder. Der Prenzlauer Berg, wo nach dem Mauerfall die Coolen und Hippen den Ton angaben, ist längt nicht mehr verrücktes Künstlerviertel. Die Kinderwägen der Jungfamilien dominieren heute das neo-bürgerliche Stadtbild. Die Karawane der Kreativen ist weitergezogen. Aktuell hat man Neukölln entdeckt. Das noch vor ein paar Jahren verrufene "Scherbenviertel" ist jetzt angesagt, die Mieten steigen dementsprechend. Der "Türkenmarkt" wirkt aber immer noch authentisch – der herzliche, aber raue Bruder des Wiener Naschmarkts mit "Schnauze" statt "Charme".

Chaos auch in unschöner Form
Die Stadt verändert sich auch, weil immer noch so viel gebaut wird. Drei Zentren konkurrieren um die Vormachtstellung: Der Kurfürstendamm im Westen hat gegenüber Potsdamer Platz und Berlin-Mitte an Bedeutung verloren. Gerade der Bezirk Mitte rund um den Alexanderplatz ist jetzt der spannendste Ort. Natürlich samt gigantischen Baustellen – wie solche Großprojekte angesichts einer von der Dauerpleite geplagten Stadt möglich sind, bleibt ein Berliner Geheimnis. Kürzlich wurde bekannt, dass die Neugestaltung der Museumsinsel auf der Spree 30 Millionen Euro teurer ist als berechnet. Berliner kennen solche Kostenexplosionen vom neuen, noch immer nicht betriebsbereiten Flughafen. Das Prestigeprojekt ist zum Debakel geworden – Berliner Chaos in seiner unschönen Form.

Aber zurück zur Mitte: Dort findet man das gemütliche, alte Berlin. Im Gasthaus Zum Nussbaum schenkt man seit einem halben Jahrtausend aus. Heute hängen an den Wänden Zeichnungen von Heinrich Zille, der das Leben der einfachen Berliner in leicht angekitschten Milieustudien festhielt. Auf der Karte findet man Buletten und Eisbein, dazu trinkt man eine Sportlermolle (Radler). Rustikal ist die Küche auch in Clärchens Ballhaus. Das Lokal heißt nicht nur so: Hier bittet man allabendlich zum "Schwoof". So kann es passieren, dass man mitten in einen Tanzkurs gerät, wenn man sich nur eine "Weiße mit Schuss" genehmigt. Wer es weniger lebendig will, kann ja in Wanne-Eickel bleiben.

"Es herrscht ein harter Konkurrenzkampf"
Aber es gibt mehr als die gepflegte Currywurst. Die Konzentration an Sterne- und Haubenrestaurants ist rekordverdächtig. "Es herrscht ein harter Konkurrenzkampf", erzählt Oliver Barda, Küchendirektor des Hotels andel's. Barda ist im Adlon beim Brandenburger Tor groß geworden und hat das andel's auf die Landkarte der Feinschmecker gebracht. Mit Küchenchef Alexander Koppe kombiniert er Heilbutt mit Heuschreckenkrebs, Saibling mit Tahiti-Vanille und Taube mit Marille.

Fine Dining in einem Hotel, wie es nur in Berlin stehen kann: ein Riesenschuppen als Designhotel mit Zimmern von einer Größe, die in London oder Venedig schon als Präsidentensuite durchgehen könnten. Man hat so viel Platz, weil das Gebäude als Einkaufszentrum konzipiert war. Aus den Plänen wurde nichts (typisch Berlin!), aber man wusste sich zu helfen (typisch Berlin!).

Geschichte en masse
Touristen, die zum klassischen Sightseeing antreten, sind nicht nur von den Distanzen gefordert. Nirgends bekommt man Glanz und Glorie, Verderben und Verbrechen der Historie so gebündelt präsentiert – Reichstag, Brandenburger Tor, die Mauer, Holocaust-Mahnmal: deutsche Geschichte en masse.

Am Potsdamer Platz steht das gewaltige Sony Center. Mit seinen umliegenden Wolkenkratzern verbreitet es einen Hauch von "Metropolis". Den Filmklassiker von Fritz Lang kann man auch gleich im Sony Center erkunden, wo die Deutsche Kinemathek ihre feine Sammlung vom Stummfilm bis zur Gegenwart ausstellt. Aber die negative Utopie des menschenverachtenden urbanen Molochs "Metropolis" ist gerade in Berlin nicht Realität geworden. Die modernste Stadt Deutschlands, sie hat ein humanes Antlitz, sie verfügt über Charme und Schnauze.

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