Industrie 4.0

Vernetzte Industrie steckt derzeit noch in Kinderschuhen

Elektronik
13.04.2013 09:30
Wenn es nach der Präsenz auf den Titelseiten der Zeitungen geht, ist die am Freitag beendete Hannover Messe diesmal besonders im Fokus gestanden. Die Aktivistinnen, die beim Rundgang von Kanzlerin Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin oben ohne auf die Politiker zustürmten, ließen die weltgrößte Industrieschau auf den Titeln landen. Doch der Zwischenfall ließ das Kernthema der Messe, ihre Zustandsbeschreibung "Industrie 4.0", im Hintergrund verschwinden.

Dabei wähnt sich die Branche mit Industrie 4.0, also der Fusion von Produktion und IT-Welt, vor einer historischen Zeitenwende. Die Versionszahl meint die vierte industrielle Revolution. Doch läuft nach Dampfmaschine, Massenproduktion und Automatisierung tatsächlich derzeit etwas derart Umwälzendes, das in die Geschichtsbücher gehört?

Vorschlagspapier für die deutsche Kanzlerin
"Diese Erhebung in den Adelsstand einer "industriellen Revolution" hat es bisher immer erst rückblickend gegeben", betont Werner Struth. Er verantwortet in der Chefetage des Bosch-Konzerns die Fabriken von morgen. Struths Kollege Siegfried Dais, Ex-Geschäftsführer bei Bosch und heute Mitglied beim Bosch-Gesellschafter Industrietreuhand, sitzt dem Arbeitskreis Industrie 4.0 vor. Die Fachgruppe übergab Merkel auf der Messe eine Umsetzungsempfehlung für das Projekt. "Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort sichern" steht auf dem Titel.

In dem 111 Seiten starken Dokument heißt es: "Nach Mechanisierung und Elektrifizierung hat die seit rund 30 Jahren andauernde Informatisierung zu einer radikalen Umgestaltung unserer Lebens- und Arbeitswelt geführt, die mit den ersten beiden Industriellen Revolutionen vergleichbar ist." Das Zitat selber verweist auf eine Quelle namens "Ergänzung und Verdrängung der Arbeit durch Technik".

Automatisierung durch Elektronik und Programmierung
Damit ist die Gretchenfrage erreicht: Ende des 18. Jahrhunderts wichen mit Wasser- und Dampfkraft die einst dezentralen Webstühle in den Wohnungen der Arbeiter den ersten mechanischen Webstühlen. Es war die Geburt industrieller Produktionsanlagen. Etwa 100 Jahre später brachte der Strom die Fließbänder. Diese zweite Revolution stückelte Arbeit und machte sie monoton, sorgte aber auch für Massenproduktion mit Skaleneffekten, die dann etwa Ford und dem Model T zum Durchbruch verhalfen. Revolution Nummer drei startete vor wenigen Jahrzehnten mit Elektronik und Programmierung, die die Automatisierung erlaubten.

Und nun "Industrie 4.0"? In der Praxis meint sie etwa Maschinen, die Verschleiß rechtzeitig erkennen. Oder Sender in Lieferungen an Kunden, die dann beim Verbrauch automatisch Neubestellungen auslösen.

IT soll Produktivitätsfortschritte sichern
Auf der Messe hieß es, mit der Revolution könnten Fabriken 30 Prozent effizienter werden. "Heute kann keiner diese Prognose oder auch das Gegenteil beweisen", sagt Struth. Der Wert sei eher "Synonym für die Erwartung, dass signifikante Fortschritte in der Produktivität erzielt werden können". Bei Kleinserien sei womöglich noch mehr drin.

Doch der Vizechef der deutschen IG-Metall, Detlef Wetzel, hält auch Negativszenarien für möglich. "Die Beschäftigten sind nur noch vernetztes Rädchen in einer unmenschlichen Cyberfabrik, ohne nennenswerte Handlungskompetenzen, entfremdet von der eigenen Tätigkeit", fürchtet er und fordert: "Nach der vielfach festzustellenden Dequalifizierung von Produktionsarbeit brauchen wir jetzt einen Schub an Requalifizierung."

Neben Ingenieuren braucht es auch Software-Entwickler
Das sieht Bosch-Manager Struth ähnlich. Neben Ingenieuren mit vertieftem Wissen über die Produktion brauche die vernetzte Fabrik auch "qualifizierte Menschen, die diese Abläufe mit Algorithmen regelungstechnisch beschreiben, Strategien entwickeln und all das in Software gießen". Statt kühler Cyberfabriken also mehr Faktor Mensch.

Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg von Industrie 4.0 würden Fachleute sein, die an den Schnittstellen von Produktion und IT arbeiten. "Bei uns sieht der Lösungsansatz so aus, dass wir Ingenieure ausbilden, dass sie sich über die Schnittstellen hinweg, also sowohl in Produktion als auch IT, auskennen", sagt Struth.

Laut einer Studie des Verbands der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik fällt die Revolution übrigens vorerst aus. Acht von zehn Unternehmen und Hochschulen glaubten nicht an den Siegeszug der "Industrie 4.0" vor dem Jahr 2025. Fehlende Normen und Standards, Qualifizierungsbedarf und IT-Sicherheitsfragen seien die Bremsklötze. Und selbst die 111-seitige Empfehlung für Kanzlerin Merkel hält im Fazit fest: "Der Weg zu Industrie 4.0 ist ein evolutionärer Prozess."

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