Drastischer Alltag

Mädchenmorde als große nationale Tragödie in Indien

Ausland
20.04.2012 09:05
Für die drei Monate alte Afreen kam jede Hilfe zu spät: Übersät von blauen Flecken und Brandmalen starb das drei Monate alte Mädchen in einem Spital in Südindien. Der Säugling hatte nach Ansicht des Vaters das falsche Geschlecht, wie die Mutter der Polizei erzählte - der Mann wollte einen Sohn. Solche Dramen sind in Indien Alltag. Die UNO wertet das Land als den weltweit gefährlichsten Ort für Mädchen: Bis zum fünften Lebensjahr sei ihre Sterblichkeit um 75 Prozent höher als die von Buben.

So starb in der Hauptstadt Neu Delhi Ende März ein weiblicher Säugling mit gebrochenen Armen und Schädeltrauma. Kürzlich verhaftete die Polizei im nordindischen Amritsar einen Mann: Er hatte seine Frau erwürgt, weil sie eine dritte Tochter gebar. Und immer wieder werden in ganz Indien weibliche Föten auf Müllhalden oder in alten Brunnen entdeckt.

Die jüngsten Morde haben nun aber das Gewissen der Nation aufgerüttelt und eine Debatte über die Rechte von Mädchen und Frauen entfacht. Indien hat mit Pratibha Patil zwar eine Präsidentin, und auch die regierende Kongresspartei wird von einer Frau - Sonia Gandhi - geführt. Der Wunsch nach Söhnen hat in dem Land jedoch eine lange Tradition.

Mädchen wegen Aussteuer "wirtschaftliche Last"
Mädchen gelten in Indien als "wirtschaftliche Last" - auch weil sie eine riesige Aussteuer in die Ehe mitbringen müssen, erklärte die Autorin Gita Aravamudan am Mittwoch bei einem Pressegespräch in Neu Delhi. Dagegen würden Söhne als Ernährer betrachtet, die ihre Eltern bis ins hohe Alter versorgen. In ihrem Buch "Disappearing Daughters: The Tragedy of Female Foeticide" (Verschwindende Töchter: Die Tragödie des Tötens weiblicher Föten) hat sich Aravamudan mit dem Thema auseinandergesetzt.

Welche Dimension die Thematik annimmt, zeigt eine aktuelle Studie des britischen Medizinjournals "Lancet": Die Forscher analysierten die Geburtsraten der letzten 20 Jahre mit dem Schluss, dass in Indien zehn Millionen Mädchen und Frauen "fehlen". Pränatale Bestimmung des Geschlechts und gezielte Abtreibungen kosten demnach jährlich 500.000 weibliche Föten das Leben. "Das ist eine nationale Tragödie", klagt Aravamudan.

Laut Behörden kamen voriges Jahr pro 1.000 Buben 914 Mädchen zur Welt. Weltweit liegt der Durchschnitt bei 950 Mädchen. Besonders schlimm ist die Lage in manchen städtischen Gebieten: Dort sinkt das Verhältnis auf bis zu 770 Mädchen pro 1.000 Buben.

Größerer Wohlstand, bessere Ausbildung und medizinischer Fortschritt in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Indien haben die Situation der weiblichen Bevölkerung offenbar kaum verbessert. Studien kamen sogar zu dem Schluss: Je gebildeter eine Frau, desto eher möchte sie im Fall eines Einzelkindes einen Knaben. "Das ist fast so, als würden sich Bildung, Wohlstand und Technik gegen weibliche Kinder verschwören", klagte am Mittwoch der Unternehmer Harpal Singh. Er leitet die Stiftung Nanhi Chhaan, die sich für Mädchen einsetzt.

Zwar verabschiedete das Parlament schon im Jahr 1994 ein Gesetz gegen den Missbrauch pränataler Geschlechtsbestimmung. Aber an der Umsetzung hapert es: "Seitdem wurden 600 Fälle vor Gericht gebracht, es gab aber nur 80 Verurteilungen", so Singh. Zur Abschreckung forderte er ein schärferes Durchgreifen durch Schnellgerichte.

"Die Regierung darf nicht nur Alibipolitik betreiben"
Überdies mahnen Experten Gleichberechtigung in Eigentums- und Erbschaftsfragen oder beim Gehalt an. Der Staat müsse handeln, betonte auch die Vorsitzende der Nationalen Kommission zum Schutz von Kinderrechten, Shanta Sinha: "Die Regierung darf nicht nur Alibipolitik betreiben." Unternehmer Singh warnt zudem vor anderen Auswirkungen: "Einigen Studien zufolge wird es bis 2025 rund 20 Millionen Männer im heiratsfähigen Alter geben, die keine Partnerin finden."

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