Vom Held zum Junkie

Die Heroin-Beichte von Deutschlands ‘Christ des Jahres’

Ausland
05.04.2012 17:32
Einmal Superstar und wieder zurück. Martin Dreyer war der Held der deutschen Christen-Szene. Tausende junge Menschen fanden durch die von ihm gegründeten "Jesus Freaks" zum Glauben. Aber dann wurde der Druck zu groß: Dreyer begann ein Doppelleben, rutschte ins Drogenmilieu ab, spritzte sich eine Überdosis Heroin. Wie durch ein Wunder überlebte er und schaffte die Wende. Jetzt spricht er schonungslos über seine finstere Vergangenheit.

Sogar der Papst hat ihm schon geschrieben. Stolz präsentiert Martin Dreyer das Schreiben von Benedikt XVI., der ihn für seine Arbeit lobt. Seit 25 Jahren ist der heute 47-jährige Protestant im "Auftrag des Herrn" unterwegs. Wenn auch etwas anders als der "Heilige Vater". Lang, steinig und voller Rückschläge war der Weg, den Dreyer gehen musste.

Dreyer, in einem gutbürgerlichen Elternhaus in Hamburg aufgewachsen, gerät schon früh auf die schiefe Bahn. Erste Drogenexperimente, Spielsucht und Zerstörungswut begleiten seine Jugend. Jahrelang lungert er als Punk herum, kriegt in der Schule nichts auf die Reihe. "Meine Eltern waren ratlos und verzweifelt", sagt Dreyer.

Bier trinken und Rauchen beim Gottesdienst? Kein Problem!
Erst als er den Glauben für sich entdeckt, wird alles anders. Dreyer bekommt sein Leben in den Griff, macht Abitur und geht auf die - christliche - Überholspur. Denn schon bald erkennt der charismatische Bursche, dass die Kirche einiges ändern muss, um die jungen Menschen zu erreichen. Und dass er selber diese Veränderungen lostreten kann.

Martin gründet die "Jesus Freaks", eine Gemeinde, die nichts von Orgelklängen, braver Kleidung und langweiligen Predigten hält. Stattdessen setzen Dreyer und seine Freunde auf ohrenbetäubende Rockmusik, zerrissene Jeans und lebensnahe Sprache. "Der Gottesdienst wurde zum Abhäng-Abend, die Gemeindeleiter hießen Ärsche und statt zu beten, laberten wir mit Gott", sagt Dreyer. Auch Rauchen und Alkoholgenuss sind erlaubt, denn: "Jesus hat die Leute damals auch so akzeptiert, wie sie waren. Wenn man zu ihm kommen wollte, musste man sich nicht verkleiden oder verstellen."

Polizei wird wegen "Kreuzigung" alarmiert
Zuerst treffen sich die jungen Gläubigen in Martins Wohnzimmer. Als aber immer mehr Leute zu den "Abhäng-Abenden" (Bild 2 und 3) strömen, müssen Gemeinderäume her. Auf der Reeperbahn werden eine Kneipe und ein Klub (siehe Bild 4) angemietet. "Auch hier war das Motto, dass wir so handeln wollen wie Jesus. Er ist nicht in die Luxusviertel gegangen, sondern dorthin, wo die Dreckigen und Ausgestoßenen lebten", so Dreyer. Auf der sündigen Meile ziehen die "Jesus Freaks" dann auch viele ihrer aufsehenerregenden Aktionen durch. Einmal stellen sie eine Kreuzigung derart echt nach, dass besorgte Anwohner die Polizei rufen. Doch die Show dient nur dazu, die Aufmerksamkeit der Kiezbesucher für die folgende Predigt auf sich zu ziehen. Ähnliches gilt für eine nachgestellte Beerdigung. Hier springt Dreyer nach einem inszenierten Trauermarsch als "Leiche" (siehe Bild links) aus einem Sarg, schreit laut "Ich will leben!" und verkündet dann vor einem Striptease-Lokal Gottes Wort.

Bald wird die Presse auf den schrillen Haufen aufmerksam, so gut wie alle namhaften deutschen Medien bringen umfangreiche Berichte über die "Jesus Freaks". Dreyer tritt ständig in Talkshows auf. Das konservative Christenblatt "Idea Spektrum" wählt den flippigen Pastor 1994 gar zum "Christen des Jahres", eine Ehre, die sonst nur "etablierten" Personen wie Bischöfen oder Spitzenpolitikern zuteil wird.

Unfalltod einer Freundin leitet den Absturz ein
Doch dann, auf dem Höhepunkt des Erfolgs, stürzt Dreyer ab. Auf dem Rückweg von einer "Jesus Freaks"-Veranstaltung kommt es auf der Autobahn zu einem Unfall. Dreyers Wagen wird zerstört, aber er selbst und seinen Freunden passiert nichts - bis Dreyer seinen Mitfahrern sagt, dass sie aussteigen sollen. Ein fataler Fehler, denn beim Überqueren der Fahrbahn wird die junge Esther von einem Auto erfasst und getötet.

Dreyer macht sich schwere Vorwürfe, an denen er zerbricht. Hinzu kommt der Erwartungsdruck der Gemeindemitglieder, die in ihm schon lange einen "Super-Christen" sehen. Dreyer ist überfordert und verzweifelt, auch sein Glauben hilft ihm nicht. Er rutscht langsam ab. "Bei einer Reise nach New York habe ich 1995 erstmals Ecstasy ausprobiert. Und es gefiel mir."

Wenig später scheitert dann seine Ehe. "Um nach der Scheidung finanziell über die Runden zu kommen, habe ich nachts als Tresenkraft in einer Szene-Kneipe gearbeitet." Dort kommt er 1997 erstmals mit Kokain und Heroin in Kontakt. "Ich dachte, dass ich alles unter Kontrolle hätte, aber ich habe mich selbst belogen und bin immer tiefer im Sumpf versunken", so Dreyer. Die "Jesus Freaks" sind zu diesem Zeitpunkt längst eine Bewegung, der in Deutschland und Europa Tausende Jugendliche angehören. Auch in Wien gibt es eine Gruppe. Doch Dreyer entfernt sich immer weiter vom Glauben.

Drogen-Doppelleben dauert zwei Jahre - bis zur Überdosis
Zwei Jahre lang hält Dreyer sein Doppelleben durch, dann folgt der Kollaps. Nach einer langen Nacht als Tresenkraft trifft er sich noch mit einem Freund, trinkt weiter und schnupft - wieder einmal - Kokain. "Weil ich in der Nacht zudem Unmengen an Energydrinks getrunken hatte, konnte ich später trotz des ganzen Alkohols im Blut nicht einschlafen." Er spritzt sich zum "Runterkommen" Heroin. Die Überdosis. Drei Tage lang liegt er regungslos in seinem Schlafzimmer, bis er schließlich gefunden wird. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt überlebt.

Doch als er im Spital wieder zu sich kommt, machen ihm die Ärzte für die Zeit, die nun auf ihn wartet, wenig Hoffnung. Er habe irreparable Hirnschäden erlitten, die ein Leben in der bisherigen Form undenkbar machen. Nicht einmal den Weg vom Krankenzimmer zur Toilette kann er sich merken. Dreyer verzweifelt zunächst, doch dann beginnt er, sich zurückzukämpfen. Er will sein Schicksal nicht akzeptieren. Der begeisterte Basketballer trainiert während des Entzugs sein Gehirn wie einen Muskel und macht langsame Fortschritte.

Neue Hoffnung schöpft er auch aus der Liebe. "Wenige Wochen nach der Überdosis habe ich per Briefwechsel eine Frau kennengelernt und mich in sie verliebt. Nach meinem Drogenentzug haben sie und ich die Hamburger Vergangenheit hinter uns gelassen und sind nach Köln gezogen." Dort absolviert Dreyer trotz seiner immer noch auftretenden Gedächtnisprobleme ein Pädagogikstudium, heiratet seine Freundin und wird 2011 erstmals Vater.

Der "Auftrag des Herrn" ist noch lange nicht zu Ende
Den "Auftrag des Herrn" hat er darüber aber nicht vergessen. Dreyer beginnt die Arbeiten an der "Volxbibel", einer Übertragung der Heiligen Schrift in die heutige Jugendsprache. "Damit auch solche Leute das Wort Gottes zu hören bekommen, die eine Bibel sonst nicht in die Hand nehmen würden."

Die "Volxbibel" war auch der Grund, warum der Papst ihm schrieb. Für den "katechetischen Gebrauch" möchte er die von Gossensprache nur so strotzende "Volxbibel" zwar nicht verwendet sehen, aber "für missionarische Zwecke unter Jugendlichen" ist sie herzlich willkommen. Ein Triumph nach all den Jahren voller Rückschläge und Ungewissheiten: "Ich habe vielleicht nicht immer an Jesus geglaubt. Aber offenbar hat Jesus immer an mich geglaubt", sagt Dreyer lächelnd.

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