Zeugen berichten

Austro-Engländer: “Leute schicken ihre Kinder plündern”

Ausland
10.08.2011 19:19
Die gewalttätigen Krawalle in Großbritannien, die bereits Todesopfer gefordert haben, betreffen auch Dutzende Österreicher - vor allem jene, die in Städten wie London oder Manchester arbeiten und leben. Aber auch heimische Touristen wurden auf ihren England-Trips mit den Unruhen konfrontiert. Die "Krone" sprach mit Augenzeugen und Betroffenen.

Für den 45-jährigen Bernd Kiener, Shop-Manager beim "Kipferl", einem der bekanntesten österreichischen Lokale in London, herrschen in der englischen Hauptstadt "bürgerkriegsähnliche Zustände". "Traditionskaufhäuser gehen in Flammen auf, überall liegen Glasscherben, und die jungen Menschen auf der Straße sind aggressiv und geladen", beschreibt der gebürtige Wiener.

Auch wenn er selbst die soziale Härte im Land - etwa die verteuerte Krankenversichrung - zu spüren bekommen hat, Verständnis für die Randalierer hat er nicht. "Hier schicken die Leute ihre Kinder zum Plündern. Viele nutzen die Gunst der Stunde, um sich etwas unter den Nagel zu reißen. Das hat nichts mit Armut, nur mit Kriminalität zu tun", meint der Auslandsösterreicher.

Passend zum Bericht von Bernd Kiener stand am Mittwoch ein erst elfjähriger Bub vor einem Londoner Jugendgericht. Er gestand, aus einem Kaufhaus einen Mistkübel im Wert von 56 Euro mitgenommen zu haben. Der schwerere Vorwurf der Teilnahme an gewalttätigen Unruhen wurde fallengelassen.

"Bin froh, dass ich vorerst in Wien bleiben kann"
Katharina M. (32) ist gerade aus London zurückgekommen. Auf dem Flughafen Wien-Schwechat erzählt sie: "Ich arbeite in London in der medizinischen Forschung. In der U-Bahn begegnete ich einer gewalttätigen Jugendbande. Passiert ist mir nichts - dennoch bin ich froh, dass ich vorerst in Wien bleiben kann." Auch Familie O. verbrachte einige Tage in Großbritannien. Die besorgte Mutter Shelley O. erklärt: "Im Zentrum Londons war es ruhig. Noch. Denn das kann alles noch kommen..."

Szenen wie im Zweiten Weltkrieg
Szenenwechsel an den Ort des Geschehens: Das Möbelhaus der Familie Reeves hat Krisen und Kriege überlebt. Aber nicht die Krawalle und Plünderungen der letzten Nächte. An der London Road im südlichen Stadtbezirk Croydon, wo das "House of Reeves" 144 Jahre lang Betten, Tische, Sessel und Schränke feilbot, rauchten am Mittwoch noch die Ruinen eines ganzen Häuserblocks. "Szenen wie im Blitz", schrieb die Zeitung "Evening Standard". "Blitz" nennen Briten die Bombardierung Londons durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg.

"Das bricht einem das Herz", sagt Geschäftsmann Trevor Reeves (56). "Ich weiß nicht, ob wir uns von diesem Schlag je wieder erholen." Doch wie konnte es so weit kommen? Wieso konnten aufgeputschte Jugendliche, gnadenlose Gangs und Plünderer erst in London und dann auch Birmingham und Manchester, Liverpool, Nottingham und Bristol anscheinend ungestört Orgien der Gewalt und Zerstörung entfachen? Was ist los mit der Polizei? Fassungslos fragen sich das viele Briten auch am Tag fünf seit dem Ausbruch der Gewalt.

"Jetzt wird aber zurückgeschossen"
Manche antworten mit typisch englischem Sarkasmus. "Scotland Yard?", sagt ein grauhaariger Mann im dunklen Anzug, der am Morgen in der U-Bahn Richtung Bankenviertel fährt: "Die sind vermutlich immer noch damit beschäftigt, Jack the Ripper zu fassen." Das Lachen der Umstehenden ist verhalten. "Jetzt wird aber zurückgeschossen", sagt eine Frau und deutet auf ihre Zeitung: "Polizei: Wir werden Feuer mit Feuer bekämpfen", lautet die Schlagzeile des "Independent", und darunter "Befehl zum Einsatz von Gummigeschossen".

Die Führung von Scotland Yard, der weltberühmten Londoner Polizei, soll ihren Einsatzkräften anfangs strikt verboten haben, mit Gewalt gegen Randalierer und Plünderer vorzugehen. Der Befehl aus der Zentrale der "Metropolitan Police" sei eindeutig gewesen, berichteten hohe Offiziere der "Times" - "stand and observe" habe die Order gelautet, stillstehen und beobachten.

"Polizei hätte rascher und robuster einschreiten müssen"
Innenministerin Theresa May fand das in Ordnung - zumindest bis in der Nacht zum Mittwoch am Rande der Krawalle in Birmingham drei junge Asiaten einfach totgefahren wurden, die laut Augenzeugen ihren Wohnblock vor Randalierern schützen wollten. "Die polizeiliche Kontrolle stellen wir nicht mit dem Wasserwerfer her", erklärte May am Dienstag, "sondern durch Verständigung zwischen den verschiedenen Gemeinden."

Geholfen hat die Taktik der "Deeskalation" kaum. "Im Gegenteil, die Polizei hätte rascher und robuster einschreiten müssen", sagt Sicherheitsexperte Peter Power im Morgenmagazin der BBC. Rund um die Uhr wurden Bilder und Berichte im Fernsehen und im Internet, auf YouTube, Facebook und Twitter verbreitet: Randalierer zünden Autos und Geschäfte an, Plünderer schleppen weg, was nicht niet- und nagelfest ist - anscheinend kaum gestört durch die Polizei. "Da war doch klar, dass auch unsere Straßenterroristen nach Londoner Vorbild zuschlagen", klagt Darsi Chouwadry, ein Ladenbesitzer in Birmingham.

Scotland Yard befürchtet weiteren Ansehensverlust
Als einen Grund für anfängliche Zurückhaltung bei Scotland Yard deutet die "Times" Furcht vor einem weiteren Ansehensverlust an. Schließlich seien die Krawalle dadurch ausgelöst worden, dass ein junger Londoner bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde. Und das kurz vor einem Verfahren gegen einen Polizeibeamten, der 2009 bei einer Demonstration gegen den Londoner G20-Gipfel einen Mann zu Tode geprügelt haben soll.

Angeschlagen ist die Reputation von Scotland Yard allerdings auch durch die Abhör- und Bestechungsaffäre um den Medienmogul Rupert Murdoch. Erst vor einem Monat sah sich Polizeichef Sir Paul Stephenson zum Rücktritt gezwungen, als bekannt wurde, dass er sich ausgerechnet von einem mit einem Murdoch-Journalisten verbundenen Unternehmen einen Kur-Aufenthalt schenken ließ. Zudem sollen Beamte Murdoch-Reportern gegen Bares Interna geliefert haben.

"Derzeit möchte die Welt nicht nach England"
Inzwischen stellt sich die Polizei nach den Worten von Premierminister David Cameron zwar auf ein härteres Durchgreifen ein - notfalls auch mit Wasserwerfern. Dass sie helfen könnten, Londons schwer angeschlagenes Image als Olympia-Stadt wiederherzustellen, glaubt kaum jemand.

England zeige sich leider "von seiner hässlichsten Seite", klagte Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe auf Twitter. "In weniger als einem Jahr begrüßen wir die Welt in London, doch derzeit möchte die Welt lieber nicht kommen." Auch Starkoch Jamie Oliver, dessen Edelrestaurant in Birmingham Gewalttäter ramponierten, ist "zutiefst traurig": "Wir müssen hart gegen diese Idioten vorgehen", twitterte er. "Es ist Zeit, dass wir unser Land zurückerobern."

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