Richter ein "Trottel"

Kiew: Justiz-Thriller um Timoschenko spitzt sich zu

Ausland
08.08.2011 16:55
Der umstrittene Prozess gegen die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko in der Ukraine spitzt sich zu. Das Gericht in Kiew lehnte am Montag eine Aufhebung der U-Haft für die Oppositionsführerin, der Amtsmissbrauch während ihrer Zeit an der Spitze der Regierung vorgeworfen wird, ab. Die 50-Jährige beschimpfte den Richter und sprach - wie viele Beobachter - von einer politischen Hetzjagd seitens Präsident Viktor Janukowitsch. Timoschenko drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Für die von der Verteidigung beantragte Freilassung gebe es keinen Grund, entschied Richter Rodion Kirejew. Zu Beginn des neuen Verhandlungstages sagte Timoschenko an Kirejew gewandt, sie werde sich nicht vor ihm erheben, da sie damit "vor der Mafia niederknien" würde. Für diese Äußerung wurde sie - wie schon mehrmals zuvor - verwarnt. An ihre Anhänger gerichtet sagte Timoschenko im überfüllten Gerichtssaal, der Gefängnisaufenthalt sei ein "Test", aber auch Teil ihrer "Lebensaufgabe", der Ukraine zu helfen, ein "wahrer europäischer Staat" zu werden. Zu ihrer Unterstützung war auch ihr Ehemann gekommen, der selten in der Öffentlichkeit auftritt.

Richter als "Dorftrottel" und "Marionette" beschimpft
Bereits drei Stunden vor Verhandlungsbeginn war die 50-Jährige ins Gerichtsgebäude gebracht worden, damit die Eskorte den angedrohten Sitzblockaden der Opposition entgehen konnte. Im Saal kam es dann zu einer neuen Runde der Privatfehde zwischen der streitbaren Oppositionspolitikerin und Richter Kirejew, den sie als "Dorftrottel" und "Marionette" beschimpfte. Medien in der früheren Sowjetrepublik sprechen bereits von einem "Duell" unter dem Motto "Die Schöne und das Biest": Timoschenko zeigt sich vor Gericht oft makellos und in weißer Kleidung, während der erst 31-jährige Kirejew völlig überfordert wirkt.

Timoschenko drohen bis zu zehn Jahre Haft. Sie muss sich in dem Verfahren seit Ende Juni vor Gericht verantworten. Dabei geht es um Gasabkommen, die während ihrer Regierungszeit im Jahr 2009 mit Russland geschlossen wurden und laut Anklage für Kiew äußerst ungünstig waren. Die damalige Ministerpräsidentin soll sie ohne Zustimmung des Kabinetts unterzeichnet und damit ihre Befugnisse überschritten haben. Sie weist die Vorwürfe als politisch motiviert zurück und wirft der Regierung eine "Hetzjagd" vor. Es gehe darum, Gegner von Staatschef Viktor Janukowitsch politisch kaltzustellen. Timoschenkos Anwalt Sergej Wlassenko sagte, das Gericht wolle seine Mandantin um jeden Preis verurteilen.

Sogar hohe Geistliche wollen für Timoschenko bürgen
Gleich neun Oppositionsparteien riefen in einem dramatischen Appell zur Bildung einer "demokratischen Einheitsfront" gegen Staatschef Janukowitsch auf. "Es geht nicht alleine um ihre Freiheit, sondern um die Frage, in welche Richtung sich die Ukraine bewegt", sagte Timoschenkos Stellvertreter in der Partei Vaterland, Alexander Turtschinow. Auch sein Kollege Sergej Sobolew warnte: "Wenn wir nicht reagieren, gibt es bald keine Opposition mehr." Die Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine, Nina Karpatschowa, kritisierte zudem die Haftbedingungen in dem Gefängnis, in dem Timoschenko sitzt. Kirchenvertreter wie Patriarch Filaret von Kiew, der Vorsteher der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, boten sich daraufhin als Bürgen für die 50-Jährige an. Auch international wird der Prozess gegen die Politikerin kritisiert.

Seit Ende Juni vergeht kein Tag in dem Prozess um den angeblichen Amtsmissbrauch ohne schrille Töne. Aber auf die dringendste Frage erhalten die rund 46 Millionen Ukrainer keine Antwort: Wohin steuert Europas zweitgrößter Flächenstaat? Nach Jahren der politischen und wirtschaftlichen Stagnation benötigt das Land einen Neubeginn. Viele hätten mit Janukowitschs Wahlsieg Anfang 2010 die Hoffnung auf eine Wende verbunden, meint der Politologe Andrej Jermolajew. Nun wirke es so, als ob sich der Staatschef mehr auf die Ausschaltung seiner Gegner konzentriere als auf die Entwicklung des Landes.

In einer offiziell als "Kampf gegen Korruption" geführten Kampagne leitet die von Janukowitsch-Funktionären geprägte Staatsanwaltschaft seit Juni 2010 rund 20 Verfahren gegen Ex-Minister und Beamte ein. Die Beschuldigten, darunter Timoschenko und der frühere Innenminister Juri Luzenko, haben eins gemeinsam: Sie engagierten sich während der pro-westlichen Orangenen Revolution von 2004, als Janukowitsch als Wahlfälscher entlarvt wurde. Gegner des Präsidenten kritisieren, der Zwei-Meter-Hüne übe mit "selektiver Justiz" Rache für seine damalige Schmach. Der Russland-freundliche Politiker Janukowitsch weist dies vehement zurück.

Pro-europäisches und pro-russisches Lager spalten Land
Über Jahre hinweg galt die seit 1991 unabhängige Ukraine als Vorzeige-Demokratie unter den Ex-Sowjetrepubliken - trotz aller innenpolitischen Krisen. Die ersehnte Stabilität in dem für die Europäische Union wichtigsten Energie-Transitland dürfte aber weiter auf sich warten lassen. Die "Schlammschlacht" vor dem Kiewer Bezirksgericht sorge für eine weitere Polarisierung des ohnehin in einen pro-europäischen Westen und einen russischsprachigen Ost- und Südteil gespaltenen Landes, betonte der Politologe Igor Schdanow.

Geschickt nutzte Janukowitsch im Präsidentenwahlkampf die Enttäuschung vieler Anhänger von "Orange", deren Führer Ex-Präsident Viktor Juschtschenko und seine Ministerpräsidentin Timoschenko sich bald zerstritten hatten, um sich als Alternative anzubieten. Sein Erfolg habe aber auf "Leihstimmen" basiert, warnen Experten. Sie erinnern daran, dass Janukowitsch der erste Präsident der Ukraine ist, der nicht einmal die Hälfte der Wählerstimmen erhielt. Doch auch Timoschenko sei kein Unschuldsengel, sondern eher eine "knallharte Machtpolitikerin", meinen Beobachter aus der EU. Das Gefängnis, in dem Timoschenko sitzt, kennt sie schon: Vor zehn Jahren musste sie dort schon einmal 42 Tage in Untersuchungshaft verbringen. Betrugsvorwürfe wurden damals aber fallengelassen.

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