Frauen evakuiert

Ungarn: Rechten-Miliz vertreibt Roma mit “Trainingslager”

Ausland
22.04.2011 20:53
Die seit Monaten andauernden Provokationen rechtsradikaler Bürgerwehren gegen Roma-Gruppen in Ungarn sind vor dem Osterwochenende eskaliert. Im Ort Gyöngyöspata, rund 80 Kilometer nordöstlich von Budapest, wurden Freitag früh fast 300 Frauen und Kinder mit Bussen abgeholt und in Ferienlager des Roten Kreuzes gebracht. Offiziell ist von einem Urlaub die Rede, ungarische Medien berichten jedoch, es habe Drohungen der Bürgerwehr "Vederö" gegeben, die in der Nähe des Dorfes ein Trainingslager abhielt. Die Polizei hat das Camp am Freitagabend schließlich aufgelöst.

Gyöngyöspata war in den vergangen Wochen - zusammen mit mehreren anderen Orten mit Roma-Siedlungen in Nordungarn - immer wieder Schauplatz von Aufmärschen der rechtsextremistischen Bürgerwehr "Szebb Jövöert" (dt.: "Für eine bessere Zukunft", abgeleitet vom historischen Gruß der ungarischen Faschisten). Die eng mit der ungarischen Rechtsaußen-Partei "Jobbik" verbundene Miliz sorgt nach eigenen Angaben für Ordnung und Sicherheit und tritt auf Wunsch der Bürger gegen "Zigeunerkriminalität" auf. Anti-Roma-Parolen und Einschüchterungen stehen an der Tagesordnung.

Trainingslager mit Gummigeschoß-Waffen
Für die Eskalation am Freitag sorgte allerdings eine andere Bürgerwehr namens Vederö (dt.: Schutzmacht). Die von der ungarischen Polizei als "paramilitärische Organisation" klassifizierte Gruppierung hat unweit von Gyöngyöspata ein mehrere Hektar großes Grundstück erworben und dort über das Osterwochenende ein Trainingslager angekündigt. In dem Camp sollte es um die "Vermittlung militärischer Kenntnisse" gehen, die Teilnehmer wurden von den Veranstaltern aufgefordert, uniformiert und mit Gummigeschoß-Waffen zu erscheinen. Zahlreiche Bürgerwehr-Mitglieder fanden sich ab Mitte der Woche im Camp ein.

Ein Sprecher von Jobbik bezeichnete die Gruppierung am Freitag als "Gegenspieler" und dementierte jegliche Verbindung zu Vederö. Deren Leiter Tamasz Eszes würde nämlich bei der Bürgermeisterwahl in Gyöngyöspata gegen den Jobbik-Kandidaten antreten, hieß es.

Roma fühlten sich trotz Polizei nicht mehr sicher
Die ungarische Polizei schickte Freitag früh ein Aufgebot von mehr als 100 Polizisten nach Gyöngyöspata und kündigte verstärkte Kontrollen rund um das Trainingslager an. Der Weg vom Vederö-Gelände zur Roma-Siedlung wurde von der Exekutive abgesperrt, das Grundstück der Bürgerwehr betraten die Polizisten jedoch nicht.

Die Furcht der Roma vor gewalttätigen Übergriffen der Camp-Teilnehmer auf die Bewohner war da aber schon zu groß geworden. Ungarischen Berichten zufolge hatten sie bereits Anfang der Woche beim Roten Kreuz Hilfe angefordert, zumindest die Frauen und Kinder sollten in Sicherheit gebracht werden. Freitag früh kamen dann die Busse nach Gyöngyöspata. Laut Tamas Bango, Vorsitzender der Vereinigung "Gemeinsam für das Gemeinwohl" des Ortes Batonyterenye und einer der Organisatoren der Evakuierung, waren am Vormittag nur noch männliche Roma im Dorf.

Premier sprach von "Osterurlaub"
Der ungarischen Regierung, die derzeit den EU-Ratsvorsitz hat, wird vorgeworfen, das Problem der Bürgerwehren zu ignorieren und in der Frage der prekär lebenden Roma bewusst untätig zu bleiben. Ein Sprecher des ungarischen Premierministers Viktor Orban erklärte am Freitag, es habe sich bei den Busfahrten um keine Evakuierungsaktion, sondern um einen seit längerer Zeit geplanten "Osterurlaub" gehandelt. Auch Erik Selymes, der Direktor des ungarischen Roten Kreuzes, gab eine Stellungnahme ab, wonach das Ferienlager zuvor geplant gewesen sei. Ihm zufolge wurden 172 Personen ins Rotkreuz-Camp Csilleberc vor Budapest gebracht, 100 weitere in den ostungarischen Ort Szolnok.

Laut der ungarischen Nachrichtenagentur MIT soll das Rote Kreuz allerdings kurzfristig von den Vertretern der Roma gebeten worden sein, die Frauen und Kinder der Siedlung in einem ihrer Lager aufzunehmen. Und zwar ausdrücklich, um sie vor der übenden Bürgerwehr zu schützen. Dementsprechende Aussagen erhielten MIT-Reporter am Freitagnachmittag auch von in Csilleberc angekommenen Frauen: Sie hätten erst am Donnerstagabend erfahren, dass sie das Dorf verlassen sollen, berichteten die Frauen, die um ihr zurückgelassenes Hab und Gut fürchten. "Es wird einen Bürgerkrieg geben", sagte eine. "Wir mussten weg, weil wir Angst hatten, dass die uns umbringen", meinte eine andere. Wann sie wieder nach Hause zurückkehren könnten, wüssten sie nicht.

Camp-Organisatoren verhaftet
Die Aussagen der evakuierten Roma-Frauen bzw. die zahlreichen Medienberichte im In- und Ausland tagsüber dürften die Regierung dann letztendlich doch zum Handeln bewogen haben. Laut dem ungarischen Fernsehsender TV2 hat die Polizei das Camp am Freitagabend aufgelöst. Die Organisatoren seien von der Polizei abgeführt und die restlichen Teilnehmer aufgefordert worden, den Schauplatz zu verlassen. Es gelte in Ungarn als Straftat, wenn eine Bekleidung getragen wird, die Ängste in der Bevölkerung auslöst, hieß es. Den acht Verhafteten - unter ihnen Vederö-Chef Tamas Eszes (siehe Bilder) - wird auch vorgeworfen, randaliert zu haben.

Die Polizei unterrichtete laut MTI die noch im Trainingslager verbliebenen Teilnehmer über die rechtliche Situation. Nach einer jüngst modifizierten Regierungsverfügung könne ein Bürger zur Zahlung von 100.000 Forint (379 Euro) verurteilt werden, wenn er sich Befugnisse der Sicherheitsorgane anmaßt.

Bis zu eine Million Roma leben in Ungarn
Die EU-Kommission hatte erst vergangene Woche die Behandlung der Roma in Ungarn scharf verurteilt. Die Einschüchterungen durch Rechtsextreme seien "unannehmbar", sagte Justizkommissarin Viviane Reding und forderte die ungarischen Behörden zum Handeln auf. Vize-Regierungschef Tibor Navracsis versicherte Reding, Ungarn sei bereit, alle seine Bürger zu schützen. Fast ein Zehntel der zehn Millionen Ungarn sind Roma, 70 Prozent davon sind arbeitslos.

Die Regierung von Premierminister Viktor Orban hatte mit Blick auf die paramilitärischen Aufmärsche allerdings schon mehrfach versprochen, nicht zulassen zu wollen, dass dem Staat das Gewaltmonopol entgleitet. Ein Versuch des Innenministiums, die Aufmärsche zu verbieten, wurde jedoch von den Bürgerwehren ignoriert, zumal Jobbik-Parlamentarier den Erlass des Innenministers als "ohne jegliche Rechtsgrundlage" bezeichneten.

Bürgerwehren schöpfen rechtlichen Rahmen aus
Die Polizei scheute bisher vor direkten Konfrontation mit den Gruppierungen, die sich behutsam am Limit des Erlaubten bewegen. Sie sind eingetragene Vereine, kündigen ihre Aufmärsche stets an und gehen bei ihrer Bewaffnung gerade so weit, wie es das Gesetz erlaubt. Berichte über systematische Gewaltübergriffe gibt es praktisch nicht, die Bürgerwehren setzen auf Einschüchterung als Kampfmittel. Bei ihren Patrouillengängen berufen sie sich auf das sogenannte Jedermannsrecht, das eine Verhaftung bzw. Anhaltung eines auf frischer Tat ertappten Täters durch einen Zivilisten erlaubt. Jobbik-Politiker betonen immer wieder, die Bürgerwehren hätten schon zahlreiche junge Roma bei Verbrechen erwischt.

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